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Spurschaden

Spurschaden

Titel: Spurschaden
Autoren: Simon Halo
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diese grauenhafte Vergangenheit: Sie alle waren bis vor kurzem körperlich und seelisch missbraucht worden. Sie alle waren Opfer.
    Hier und jetzt sollte auf diese traurigen Schicksale ein streng ausgewähltes Experten-Team angesetzt werden. Die Aufgabe: Das Verhalten der Kinder ausführlich dokumentieren. Eine Besonderheit lag nun darin, dass jedes dieser Kinder auf seine ganz spezielle Art und Weise die vorherigen Attacken bewusst oder unbewusst verdrängt hatte.
    Welche Langzeitauswirkungen würde das auf sie und ihre Umwelt haben? Wie konnte man sie in ihrer weiteren Entwicklung am besten unterstützen, ihnen helfen? Es gab etliche Fragen, die man wissenschaftlich und menschlich untersuchen wollte. Die Frage nach dem »Wie kann man sie wenigstens jetzt schützen?« war bereits erfolgreich gelöst worden: ein abgeschirmter Ort mit streng ausgewähltem Personal. Ja, das Gesamtziel war ehrenvoll. Staat und Kirche wollten den Opfern wirklich helfen; davon waren alle unmittelbar Beteiligten fest überzeugt.
    Während Marie noch immer im dünnen Schlafgewand am Fenster stand und hoffte, dass sie morgen so wenig Hände wie möglich schütteln müsste, klingelte eine Etage tiefer ein alter Wecker; dumpf und nur kurz. Unter der Bettdecke war er einzig für seinen Besitzer hörbar gewesen. Zehn Minuten vor zwölf. Es folgte das unsanfte Wachrütteln der Person im Bett gegenüber und schon schlich zunächst eine, dann noch eine kleine Gestalt barfuß aus ihrem Zimmer.
    Der Holzboden im Flur war kalt, die Steinfliesen im Treppenhaus noch viel kälter. Doch die innere Aufregung ließ all dies vergessen. Dass die schwach leuchtenden Notausgangshinweisschilder perfekte Orientierungspunkte boten, war bekannt. Außerdem gab es noch die kleine Taschenlampe, die sie natürlich wieder bei sich trugen. Vor genau einer Woche hatten sie diese Wegstrecke das erste Mal gemeistert und jeden Abend vor dem Einschlafen an den nächsten Sonntag gedacht. Es mussten genau diese wenigen Minuten vor Mitternacht sein; nur so ergab der Plan einen Sinn. Und es musste ein Sonntag sein, da nur dann Pater Johann die Einhaltung der Nachtruhe kontrollierte. Wobei von Kontrolle keine Rede sein konnte – dafür besaß der Pater einen viel zu guten Schlaf.
    »Nicht so schnell!«, flüsterte Silke. Doch diese Bitte, schien Esther nicht zu akzeptieren. Noch stärker zog sie an der kleinen Hand, um dann wenige Sekunden später ganz plötzlich in ihrer Bewegung zu stoppen. Fest umklammerten sich jetzt die Hände. Beide Körper zitterten vor Aufregung und Kälte. Hier im obersten Stockwerk schien der Flur vollkommen unbeheizt.
    Esther lugte um die Ecke, drehte sich wieder zu ihrer Schwester um und stotterte: »Ich … ich seh es!«
    »Was?« Silke hielt ihren Atem an.
    »Das Ende vom Flur. Wir sind gleich da!«
    Dann schlug die Turmuhr nicht gerade leise zur vollen Stunde und die zwei kleinen Gestalten zuckten merklich zusammen. Sekunden später hallte ein deutlich hörbares Kichern durch den langen Korridor.

3
    Aus nicht geringer Höhe ließ Marie sich rücklings auf das Bett fallen. Bei ihrer kleinen Körpergröße und dem trotz ihrer stattlichen Oberweite nur minimalen Übergewicht, stellte das für die robuste Federkernmatratze überhaupt kein Problem dar. Noch während der gestreckte kleine Finger der linken Hand geschickt die Nachttischlampe anknipste, zog die rechte bereits die Decke bis fast unter das Kinn; gerade soweit, dass die Füße darunter verborgen blieben.
    Ein Schmunzeln lag in Maries leicht rundlichem Gesicht, während sie auf das in deutlicher Schräglage hängende Kreuz an der Wand gegenüber starrte. Wie oft hatte sie dieses augenscheinlich perfekt ausgerichtet gehabt. Wie oft hatte der gekreuzigte Sohn Gottes sich dennoch wieder aus nicht nachvollziehbaren Gründen in die Schräglage begeben. Es waren gerade diese kleinen Unstimmigkeiten, die für Marie das Leben – bei all dem Leid – dennoch lebenswert machten. Und so war es nicht verwunderlich, dass sie diese Unstimmigkeiten manchmal geradezu heraufbeschwur.
    »Dieses eine Jahr in Armut, Keuschheit und Gehorsam wird mir sicher guttun«, dachte Marie, und ihr Blick verweilte auf dem weißen Schleier, der über der Stuhllehne hing. Einzig mit der Verpflichtung zu Gehorsam könnte es Probleme geben. Doch noch hatte sie keinen Grund zum Tadeln gegeben.
    Eigentlich hatte sie nach ihrem freiwilligen sozialen Jahr mit dem Studium beginnen wollen, und eigentlich hatte auch ihr kleiner
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