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Spur nach Ostfriesland

Spur nach Ostfriesland

Titel: Spur nach Ostfriesland
Autoren: Beate Sommer
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den Kopf zerbreche. Aber ich kann einfach nicht anders, ich muss wissen, wie ich auf etwas reagiere und mit welchen Folgen, bevor es so weit ist, also spiele ich die Möglichkeiten durch, bis ich auf alles gefasst bin. Ich finde das bloß vernünftig, wenn man sich nicht zum Spielball von anderen macht. So fatalistisch will ich nicht sein.«
    Gefährliches Terrain, dachte Marilene. Sie sprachen oft über ihre Jugendfreundin Rosalie, aber dies war das erste Mal, dass Niklas seiner Mutter eine Mitschuld an ihrem Tod zu geben schien, und am meisten beunruhigte sie, dass er es nicht direkt aussprach.
    »Ich glaube«, sagte sie, »dass der eigene Tod nicht vorstellbar ist, bis zur letzten Sekunde nicht, aber mit Fatalismus hat das überhaupt nichts zu tun.«
    »Ertappt.« Niklas tippte sich mit dem Löffel auf die Nase. »Mir war gar nicht bewusst, dass ich über Mama rede, aber du hast recht. Ich wünschte, ich könnte wütend auf sie sein. Marie ist genauso sauer über alles, was Mama gemacht hat, wie über das, was sie nicht getan hat. Das ändert zwar nichts, aber mit Wut lebt es sich besser. Ich glaube auch nicht, dass Mama schuld ist an dem, was passiert ist, es ist nur so, dass ich nicht aufhören kann zu grübeln, wie sie es hätte verhindern können. Verstehst du? Eben nicht ausharren und abwarten und hoffen, dass man sich irrt. Das meine ich mit fatalistisch. Erstarren wie das Kaninchen vor der Schlange.«
    »Sie wollte etwas tun«, widersprach Marilene. »Ich bin sicher, sie hat nach einer Lösung gesucht.«
    »Aber zu spät.« Niklas Stimme drohte zu kippen.
    »Ja«, stimmte Marilene zu. »Trotzdem, was wäre denn gewesen, wenn sie wirklich früher mit jemandem geredet, sich Hilfe gesucht hätte? Kannst du dir vorstellen, dass man ihr geglaubt hätte? Bei der Polizei? Ich kann ja nicht einmal von mir selber behaupten, dass ich ihr das abgenommen hätte, schließlich hatte ich sie über zwanzig Jahre nicht gesehen. Die Menschen verändern sich, vielleicht hätte ich einfach gedacht, dass sie spinnt.« Marilene zögerte kurz. »Und was ist mit dir?«, fragte sie, »hättest du ihr wirklich geglaubt?« Sie konnte nur hoffen, dass dies nicht einen Schritt zu weit ging. Sie wollte erreichen, dass Niklas wenigstens seiner Mutter nichts nachtrug, allerdings nicht um den Preis, dass er sich selbst vorwarf, versagt zu haben.
    Niklas holte tief Luft und stieß sie langsam wieder aus, bevor er antwortete. »Vielleicht nicht«, gab er zu, »vielleicht wäre es mir nicht möglich gewesen.« Er wischte mit beiden Händen über den Tisch, als taste er nach einer Kerbe, in die er seine Finger krallen könnte. »Da ist eine Grenze, über die man nicht hinauskann, im Kopf nicht und in echt erst recht nicht.«
    »Mit dieser Grenze ging es deiner Mutter ebenso –«
    Niklas schnitt ihr das Wort ab. »Warum scheuen wir uns, auch nur schlecht zu denken, während andere jeden elenden Gedanken in die Tat umsetzen?« Er sprang auf und räumte mit Getöse das Geschirr in die Spüle.
    Marilene ließ ihn gewähren. Sie wusste keine Antwort darauf. Die brauchte sie auch nicht, wenn sie dem Psychologen glauben konnte, was ihr schwerfiel, das Eingeständnis der eigenen Sprachlosigkeit. Sie solle ihn reden lassen, egal, wie oft sich das Gesagte im Kreise drehe, darauf achten, ein Ventil zu schaffen, falls der Druck zu groß würde. Ob Spülen dem Anspruch genügen würde? Sie klopfte eine Zigarette aus der Packung auf dem Fensterbrett, öffnete die Balkontür und tat einen zaudernden Schritt nach draußen.
    Augenblicklich drang ihr die feuchte Kälte bis in die Knochen. Selbstkasteiung, dachte sie und hielt schützend eine Hand vor die zitternde Flamme. Mit mäßigem Genuss paffend – was tut man nicht alles, um ein einigermaßen hinlängliches Vorbild abzugeben –, trat sie von einem Fuß auf den anderen und klemmte die Hände unter die Achseln. Es ist nicht kalt, beschwor sie ihre komatöse Phantasie. Eine Formel, die nicht länger funktionierte, die Teenies vorbehalten blieb, die schon immer bei Minusgraden mütterliche Ermahnungen ignorierten und blau gefrorene Haut zu Markte trugen. Ein masochistischer Exhibitionismus, der ihr heute ein Rätsel war, während sie damals, kaum außer Sichtweite, den Mantel aufgeknöpft hatte, damit ihre bloßen Beine bei jedem Schritt hervorblitzten. Das Einzige, was sich seither verändert hatte, war, dass heutzutage nicht länger die Beine, sondern die Bäuche unverhüllt der Kälte trotzen
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