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Spur nach Ostfriesland

Spur nach Ostfriesland

Titel: Spur nach Ostfriesland
Autoren: Beate Sommer
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mussten. Welche Mode, überlegte sie, würde in zwanzig oder dreißig Jahren Paarungswillen signalisieren, wenn die Sprachfähigkeit noch weiter verfiele? Nicht, dass ein »voll geil« als Gipfel an Subtilität noch wesentlich zu unterbieten war. Je weniger Worte, desto mehr Haut. Was im Umkehrschluss, sie spann den Gedanken fort, für die Zwangseinführung der Burka spräche. Sie grinste. Alice Schwarzer würde sie steinigen. Oder?
    Sie beugte sich über die Brüstung, wie um sich zu vergewissern, dass kein Angriff drohte. Nein, von dieser Seite war ein Hinterhalt nicht zu erwarten, nicht bei diesem Wetter. Ein paar Schneeflocken tanzten träge im Licht der Straßenlaternen ihrem sicheren Untergang entgegen. Nur die Parkbank, die Mülltonnen und länger nicht bewegte Fahrzeuge trugen fadenscheinige weiße Hauben. Die Straße glänzte, ob von Feuchtigkeit oder Glätte ließ sich nicht ausmachen, und die wenigen Autos, die vorbeifuhren, zuckelten so gemächlich, dass sie kaum zu hören waren. Zu Fuß war niemand unterwegs, nur der Hund eines Nachbarn, eine struppige Promenadenmischung, raste hektisch zwischen den Bäumchen auf der gegenüberliegenden Straßenseite hin und her, dürre Gerippe, die ihm nicht recht zu behagen schienen. Er stoppte abrupt und hob schon das Bein, um gegen einen Autoreifen zu pinkeln, als ein scharfer Pfiff ertönte. Darauf zog er den Kopf ein und trottete verdrossen Richtung Baumstamm, beiläufig den Kopf wendend, ob nicht doch eine Chance bestünde, sich davonzustehlen. Marilene bückte sich, um ihre Kippe in die in der Ecke stehende Cola-Dose fallen zu lassen, und als sie sich wieder aufrichtete, war auch der Hund verschwunden.
    Die Welt jenseits der Straßenlaternen war ausgelöscht. Eine Geisterstadt, wäre nicht hier und da ein Fenster erleuchtet, merkwürdig leer wirkend ohne all den weihnachtlichen Kitsch, der bis vor Kurzem zuversichtlichen Zauber verströmt hatte. Jetzt musste das bläuliche Geflimmer von Fernsehgeräten genügen, um Leben vorzutäuschen, armselig und trist und ohne jede Chance gegen die prachtvolle Verschwendung jenseits allen guten Geschmacks, die zuvor geherrscht hatte.
    Aber selbst Marilene war der um sich greifenden Seuche anheimgefallen und hatte im Dezember die erste Lichterkette ihres Lebens erstanden, nur um sie dann doch in ihrer Rumpelkammer zu verstecken, gemeinsam mit dem künstlichen Weihnachtsbäumchen. Auch dies ein erstes Mal, war sie vor dem Versuch, eine trügerische Idylle zu schaffen, zurückgeschreckt, ein Naserümpfen fürchtend oder, schlimmer noch, einen stummen Vergleich mit dem, was mal war.
    Dieses dünne Eis zu betreten hatte sie Anita überlassen und war über die Feiertage zu ihrem Vater nach Ostfriesland geflohen. Vielleicht nächstes Jahr – dieses, korrigierte sie sich –, vielleicht hätte sie dann nicht länger das Gefühl, neben sich zu stehen und jede ihrer Handlungen mit der Distanz einer Fremden in Frage zu stellen. Vielleicht würde sie dann Hartmanns Vorschlag in Betracht ziehen, dass sie alle gemeinsam Weihnachten feierten, eine Party vielmehr, die, so hatte sie gefürchtet, sich doch nur als ein schräges Fest der Übriggebliebenen entpuppt hätte, Hysterie nicht ausgeschlossen.
    Also hatte sie abgelehnt und Kommissar Hartmann wieder einmal verärgert, wie es schien, denn seither hatte sie nichts von ihm gehört. Idiot, dachte sie, sah so etwa Freundschaft aus? Die, immerhin, hatte sie ihm doch angeboten. Was erwartete er denn? Okay, diese Frage konnte sie durchaus beantworten. Wollte sie aber nicht. Denn seit Weihnachten geisterte ihr etwas im Kopf herum, und vielleicht war es an der Zeit, die Idee ans Tageslicht zu holen und das Für und Wider zu konkretisieren.
    Sie erwog einen neuerlichen Umzug. Nach Leer. Kein leichter Schritt, sicherlich, wo sie doch gerade erst Fuß zu fassen begann, seit sie sich selbstständig gemacht hatte. Eine Anzeige in der »Ostfriesen Zeitung« – ein Anwalt suchte einen Nachfolger für seine Kanzlei – hatte den Gedanken geweckt. Sie hatte sich noch nicht durchringen können, ihn zu kontaktieren, aber sie hatte es vor.
    Niklas würde im Herbst zum Studium nach Oldenburg ziehen, sechzig Kilometer von Leer entfernt, sie würde mit ihrem Umzug also keinesfalls klammern, wäre aber doch leichter erreichbar. Ihr Vater würde sich gewiss freuen, und je älter er wurde, desto praktischer, wenn sie in der Gegend wäre. Nicht zu nah wiederum. Ditzum, wo er bis vor Kurzem gelebt hatte, ein
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