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Spür die Angst

Spür die Angst

Titel: Spür die Angst
Autoren: Jens Lapidus
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zurück. Sie versuchte, sie zu verdrängen und stattdessen die Musik in sich aufzunehmen beziehungsweise sich aufs Laufen zu konzentrieren. Wenn sie ihren Fokus intensiv auf ihre Zwischenzeit richtete, die sie gewöhnlich nach der Umrundung des Kanals mit den vielen Kanadagänsen nahm, denen sie gezwungen war auszuweichen, würde es ihr möglicherweise gelingen.
    Aus den Ohrstöpseln erklang Madonna.
    Auf dem Kies lag Pferdemist.
    Sie glaubten, dass sie sie nach Belieben ausnutzen könnten. Dabei war sie es, die sie ausnutzte. Diese Einstellung schützte sie. Sie entschied nämlich selbst, was sie tat und wie sie fühlte. In der offiziellen Welt waren sie erfolgreiche, wohlhabende, mächtige Männer. Ihre Namen erschienen auf den Titelseiten der Wirtschaftsblätter, in den Börsennews und auf dem höchsten Index der Finanzexperten. In Wirklichkeit aber waren sie ein Haufen pathetischer, trauriger Verlierer. Menschen, denen es an etwas fehlte. Männer, die offensichtlich auf sie angewiesen waren.
    Ihre Zukunft hatte sie bereits in groben Zügen geplant. Sie würde dieses Theater mitspielen, bis sich eine passende Gelegenheit bot, auszusteigen und sie auffliegen zu lassen. Und wenn sie nicht auffliegen wollten, würden sie eben bezahlen müssen. Sie hatte sich gut vorbereitet, über Monate hinweg Informationen gesammelt. Ihnen Bekenntnisse entlockt, Kassettenrecorder unter Betten versteckt, einige von ihnen sogar gefilmt. Sich wie eine echte FBI -Agentin gefühlt, allerdings mit einem Unterschied: Ihre Angst war weitaus größer.
    Sie spielte ein riskantes Spiel. Sie kannte die Regeln; falls es schiefgehen sollte, könnte das das Ende bedeuten. Aber es würde funktionieren. Laut Plan würde sie an ihrem dreiundzwanzigsten Geburtstag aussteigen. Aus Stockholm abhauen, irgendwohin, wo es besser wäre, größer. Cooler.
    Zwei junge Mädchen kamen in aufrechter Haltung auf ihren Pferden über die erste Brücke am Wirtshaus von Djurgårdsbrunn geritten. Dem wahren Leben noch nicht ausgeliefert. Wie sie selbst damals, bevor sie von zu Hause weggegangen war. Sie korrigierte sich in Gedanken, denn genau das war nach wie vor ihr Ziel. Aufrecht durchs Leben zu reiten. Und sie würde es schaffen.
    An der Brücke stand ein Mann mit Hund. Folgte ihr mit dem Blick, während er in sein Handy sprach. Sie war seit der frühen Pubertät daran gewöhnt, Aufmerksamkeit zu erregen, und nach der Brustvergrößerung mit zwanzig starrten sie die Männer regelrecht in Scharen an. Das versetzte ihr irgendwie einen Kick, gleichzeitig ekelte es sie aber auch an.
    Der Mann war gut gebaut. Trug Jeans und Lederjacke und hatte eine runde Kappe auf dem Kopf. Irgendetwas an ihm war allerdings anders. Er hatte nicht diesen geilen Männerblick. Im Gegenteil, er wirkte ausgeglichen, konzentriert, fokussiert. Als ginge es bei dem Telefonat um sie.
    Der Kiesweg endete. Der Weg zur letzten Brücke, Lilla Sjötullsbron, war zwar asphaltiert, aber an vielen Stellen mit langen Rissen versehen. Sie überlegte kurz, ob sie auf dem ausgetretenen Pfad im Gras weiterlaufen sollte. Dort hockten allerdings zu viele Kanadagänse. Ihre Feinde.
    In der zunehmenden Dämmerung konnte sie kaum noch die Brücke erkennen. Warum brannten die Straßenlaternen noch nicht? Schalteten sie sich nicht automatisch ein, wenn es dunkel wurde? Heute offenbar nicht.
    Ein Lieferwagen stand mit der Rückseite zur Brücke geparkt.
    Kein Mensch war zu sehen.
    Zwanzig Meter entfernt lag eine Luxusvilla mit Aussicht über die Ostsee. Sie kannte den Besitzer. Er hatte die Villa ohne Baugenehmigung innerhalb einer großen alten Scheune, die bereits auf dem Grundstück stand, errichten lassen. Ein einflussreicher Mann.
    Kurz bevor sie auf die Brücke einschwenken wollte, fiel ihr auf, dass der Lieferwagen ungewöhnlich dicht am Straßenrand stand. Als sie nach rechts abbog, betrug der Abstand noch ungefähr zwei Meter.
    Die Türen des Lieferwagens wurden aufgeschlagen. Zwei Männer sprangen heraus. Sie hatte keine Ahnung, was geschah. Ein dritter Mann lief von hinten auf sie zu. Wo kam er so schnell her? War er der Mann mit dem Hund, der sie beobachtet hatte? Die Männer aus dem Lieferwagen packten sie mit festem Griff. Pressten ihr ein Tuch auf den Mund. Sie versuchte zu schreien, kratzen, schlagen. Holte tief Luft und spürte, wie ihr schwindelig wurde. Sie hatten das Tuch mit irgendetwas getränkt. Sie wand sich, riss an ihren Armen. Aber es half nichts. Sie waren zu groß. Zu schnell. Zu
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