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Sprache, Kommunikation und soziale Entwicklung

Sprache, Kommunikation und soziale Entwicklung

Titel: Sprache, Kommunikation und soziale Entwicklung
Autoren: Burkhard Schneeweiß , Theodor Hellbruegge
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Sprachentwicklung und präventive Intervention
    Trotz der beeindruckenden Fortschritte in der Erforschung des beginnenden Spracherwerbs sind die neuen Erkenntnisse aufgrund der hohen individuellen Variabilität in allen Domänen und des Aufwandes der experimentellen Methodik noch nicht zur Früherkennung und klinischen Einzelfalldiagnostik von Spracherwerbsstörungen geeignet (Sachse & Suchodoletz 2011). Sie weisen jedoch auf die unverzichtbare Rolle der frühen Kommunikationsprozesse hin und fordern zu zwei wichtigen präventiven Empfehlungen heraus: zur frühzeitigen Untersuchung der Hörfähigkeiten (Nennstiel-Ratzel 2011) und zur Stärkung der Eltern und anderer Betreuer in ihrer intuitiven nichtsprachlichen und sprachlichen Kommunikation mit dem Säugling (Langen-Müller 2005).
    Die wachsende Sorge um die Zunahme von Kindern im Vorschulalter und beginnenden Schulalter, die über keine ausreichenden Sprachkompetenzen verfügen und die bei weitem nicht nur aus Migrantenfamilien und sozial benachteiligten Familien stammen, macht die Suche nach Ursachen und gezielten Präventionsmaßnahmen immer dringender. Wenn heute lange überfällige Sprachförderprogramme erst im letzten Kindergartenjahr, sozusagen gerade noch vor Toresschluss, eingeführt werden, so drängt sich in Anbetracht des aktuellen Wissens über die Anfänge der Sprachentwicklung in der vorsprachlichen Kommunikation der Eindruck auf, dass diese Hilfen zwar nötig sind, jedoch viel früher ansetzen sollten.
    Dass die Ursachen mangelnder Sprachkompetenz bereits im Säuglingsalter wurzeln können, zeigen die langjährigen Erfahrungen in der diagnostischen und therapeutischen Arbeit mit Säuglingen und Kleinkindern im Kontext frühkindlicher Regulations-, Bindungs- und Beziehungsstörungen (Papoušek et al. 2004). Hier sind diagnostisch alle Faktoren in Betracht zu nehmen, die die intuitiven elterlichen Kommunikationsfähigkeiten beeinträchtigen, hemmen,überformen oder gänzlich außer Kraft setzen und die kindlichen Voraussetzungen für eine ungestörte Kommunikations- und Sprachentwicklung über die möglichen konstitutionellen Voraussetzungen des Kindes hinaus nachhaltig einschränken können (Papoušek 2004). Diagnostik, Beratung und Therapie dieser Störungen sollten sich im Säuglings- und Kleinkindalter daher nicht allein auf die Verhaltensprobleme und emotionalen Beziehungsaspekte ausrichten, sondern mehr als bisher auch die Qualität der stimmlichen und sprachlichen Kommunikation und die frühkindlichen sprachrelevanten Fähigkeiten einbeziehen (Weissenborn 2005).
    Die klinischen Erfahrungen weisen darüber hinaus auch auf allgemein gesellschaftlich bedingte Gefährdungen des frühen Spracherwerbs hin. Zu beobachten ist, dass heute in vielen Familien aller Schichten die zwischenmenschliche sprachliche Kommunikation verarmt und vernachlässigt wird – verdrängt, übertönt und bedroht durch Fernsehkonsum, ubiquitäre Musikbeschallung, elektronische Kommunikation über Handys, Internet, Computerspiele und eine nicht mehr zu bewältigende Informationsflut. Ebenso verbreitet ist das Verstummen in Familien mit kleinen Kindern unter dem Einfluss von Verunsicherung und Versagensängsten, Depressivität, chronischem Stress, Überforderung und Burn-out. Dabei wäre es doch so einfach und belohnend – sich einzulassen auf die Entwicklung und Erfahrungswelt des eigenen Babys; sich leiten zu lassen von seinen Signalen, Interessen, Vorlieben, Freuden und Kümmernissen; sich dabei auf die eigenen intuitiven Kompetenzen zu verlassen; sich zu Erkundung, Spiel und Erfindungslust mit dem Baby verführen zu lassen und bei all dem mit dem Baby zu sprechen.
    Die frühpädagogischen und therapeutischen Möglichkeiten früher Prävention und Sprachförderung durch Unterstützung positiver Kommunikationserfahrungen und Elternanleitung, die die biologisch angelegte intuitive elterliche Sprachförderung zum Leben bringt, sind längst erprobt (Langen-Müller 2005; M. Papoušek 2001; Wollwerth & M. Papoušek 2004). Sie erfordern in der Regel relativ geringen Aufwand und sind in mehrfacher Hinsicht sinnvoll: Sie zielen darauf ab, je nach Bedarf die Eltern zu entlasten und den von der Natur angelegten Schatz an natürlichen Ressourcen für den Spracherwerb bei Eltern und Kind wiederzubeleben und zu nutzen, und sie schaffen gleichzeitig den Spielraum für eine positive Bindungs- und Beziehungsentwicklung.
Anmerkungen
    1 Mit freundlicher Genehmigung des Verlags:
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