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Splitternest

Titel: Splitternest
Autoren: Markolf Hoffmann
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langer Winter. Solange er über Aroc wehte, konnte kein Schiff dorthin gelangen. Eis umgab die Insel als ein fester Wall. Dann aber kam Durta Slargin und erschlug den Riesen. Suuls Leib sank auf die Felsen nieder, das Eis zerbarst, die Küste taute. Nun erst konnten die Menschen Aroc in Besitz nehmen, ohne Furcht vor Suul. Doch sie vergaßen ihn nie, den Herrscher der Kälte. Sein letzter Atemzug, sein Todesseufzer, wehte noch immer über das Meer: Suuls kalter Hauch …
    Die Legende von Suuls Fall wurde auf Aroc in vielen Fassungen überliefert, jedes Dorf kannte eine andere. Oft kam es zum Streit, sogar zu Blutvergießen, denn jeder behauptete, die einzig wahre Fassung zu kennen. Dichtung und Deutung, Wahrheit und Erfindung ließen sich auf Aroc schwer voneinander trennen. Denn auf der kargen Insel war das Ringen um Wahrheit stets auch ein Ringen um Macht – und zugleich ein Kampf ums nackte Überleben.
    So spross der Keim der Lügen. Wer säte ihn? Wer hegte ihn in all den Jahren? Wer wird ernten, wenn das Zeitalter der Wandlung endet?
     
    Das Ostmeer … eisige Fluten, aufgepeitscht vom Zorn eines kommenden Sturms. Wie grobe Hände griffen die Wellen nach Suuls Hauch, fielen gurgelnd in sich zusammen, geiferten und spien Gischt. Eisschollen brachen mit einem Knirschen und wurden zu Splittern zermalmt, die wie Scherben auf den Wogen tanzten.
    In der Ferne schimmerten Arocs Gestade; schneebedeckte Gebirge, Klippen aus Eis. Das Leben der Menschen, die in den Frondörfern unter den Bergen lebten, war von Verzicht und Mangel bestimmt. Überall herrschte bittere Armut … außer in Imris, der einzigen Stadt Arocs und Sitz des Rats der Neun Pforten.
    Der Himmel verfinsterte sich. Nebel schob sich von Norden her über das Wasser, schwer wie eine Wolke, die vom Himmel herabgesunken war. Um ihn klarte das Wasser auf und nahm eine tiefblaue Farbe an. Dann zerfaserten die Ränder des Nebels, und Konturen waren zu erkennen: Segel, Masten, ein goldener Schiffsrumpf. Dumpfe Klänge hallten über das Wasser, seltsame Stimmen, verhaltene Gesänge. Es waren dieselben Laute, die einst die Bewohner von Bilmephal gehört hatten, ehe ihre Insel überrannt worden war. Und bald hatte man sie überall auf Gharax vernommen, in Candacar, in Gyr, in Arphat.
    Sie hatten den Untergang angekündigt.
    Der gespenstische Schleier kroch auf Aroc zu. Am Himmel verdichteten sich die Wolken; ein nahender Sturm grollte in der Ferne. Durch die Wolkendecke brachen Sonnenstrahlen. Sie brachten die Eissplitter in den Wellen zum Schimmern, bis der Nebel auch sie überschattete.
    Meer und Sturm und Sonne hatten sich gegen Aroc verschworen.
    Die Insel zahlte nun den Preis für Suuls Erschlagung.
     
    Die Priester der Tathril-Kirche erzählten die Legende von Suuls Tod wie folgt:
    Einst herrschten grausame Götter über Gharax: der rachsüchtige Meergott Candra, dessen Wellen die Ufer verschlangen, der Sonnengott Agihor, dessen Strahlen die Felder verdorren ließ, und der furchtbare Sturmgott Gharjas. Aus Missgunst verwehrten sie es den Menschen, Aroc zu besiedeln. Suul war ihr Wächter, ein Riese aus Eis, voller Hass auf das Leben. Tag für Tag hockte er auf den Felsen und hauchte gen Westen, denn die Welt sollte im Winter verharren, die Gewässer sollten zu Eis erstarren und die Menschen leiden, leiden … sie sollten die Götter fürchten und niemals gegen sie aufbegehren.
    Doch ihr Streben nach Freiheit war stärker. Tathril, der Gott der Neuen Zeit, erhörte ihr Flehen und sandte ihnen Durta Slargin. Der Zauberer verwandelte sich in eine Schneeflocke und ließ sich vom Wind nach Aroc treiben.
    Als Suul wieder einmal auf dem Gebirge saß und seinen Atmen über das Meer schickte, blieb eine unscheinbare Schneeflocke in seinem Bart hängen. Er bemerkte sie nicht.
    Und in einem günstigen Augenblick nahm Durta Slargin menschliche Gestalt an, hob den Stab und zertrümmerte Suuls Kiefer mit einem einzigen kräftigen Hieb. Suul heulte auf, packte den Zauberer und wollte ihn in der Faust zerquetschen. Aber da fuhr Tathril selbst in den Stab. Suuls Faust schmolz dahin in Feuersglut. Durta Slargin befreite sich und streckte den Riesen zu Boden. So sank Suuls Leichnam in den Schnee, und Durta Slargin pries Tathril, der ihm in größter Not beigestanden hatte.
    Gegner der Kirche warfen den Priestern vor, die Legende verfälscht zu haben, um den Glauben an Tathril zu erzwingen. In den Dörfern um Imris hätten noch vor Jahrhunderten viele den alten Göttern
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