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Splitternest

Titel: Splitternest
Autoren: Markolf Hoffmann
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gehuldigt, und erst mit dieser falschen Überlieferung hätte die Kirche das Volk bekehrt. Wer sich geweigert hätte, ihr Glauben zu schenken, wäre mit einem Holzstab zu Tode geprügelt worden. In vielen Tempeln waren diese Stäbe noch immer zu sehen; sie hingen über den Eingangsportalen, um an Tathrils Macht zu gemahnen.
     
    Die Peitsche traf den Candacarer im Gesicht – ein roter Streifen, quer über Mund und Wange. Blut troff von den Lippen. Er zuckte nicht einmal mit der Wimper, hielt dem Blick seines Gegenübers stand.
    »Ich wiederhole mich nur ungern.« Die Stimme des Priesters klang so scharf wie sein Peitschenhieb. »Du wirst hinaufgehen, Gubyr! Ich dulde keinen Widerspruch von euch Rittern, hörst du?« Er wischte sich mit der linken Hand die Schneeflocken von der Stirn, die trotz seines Zorns kalt und blass war. »Du bist einer der wenigen, die Suuls Nacken schon einmal erklommen haben und lebendig zurückkehrten. Deshalb musst du ein zweites Mal hinaufgehen. Zwei Stunden noch, dann geht die Sonne unter, und sie sind da … sie kommen!«
    Der Gepeitschte lächelte kalt. Sein Gesicht war schmal und stolz; die schrägstehenden Augen waren fest auf den Priester gerichtet. Um ihn heulte der Wind und wirbelte seinen Mantel auf, den Pelzkragen, die Troddeln seiner Mütze. Er ließ sich Zeit mit der Antwort.
    »Du hast mir nichts zu befehlen, Priester. Nicht mehr.« Seine Hand fuhr zum Schwertgriff. Es war eine candacarische Klinge, ihr Knauf muschelbesetzt. »Zwei Kalender lang habe ich mir dein Geschwätz angehört, deine Anweisungen befolgt, für dich und deine Kirche und deinen Kaiser mein Leben aufs Spiel gesetzt. Nun sind deine Worte ohne Belang. Die Goldéi kommen, und euch Priester werden sie zuerst bezahlen lassen.«
    Die Hand des Priesters zuckte. Das Ende seiner Peitsche jagte über den Boden und wirbelte Schnee auf. Doch er schlug kein zweites Mal zu. Statt dessen sah er sich nach den anderen Männern um. Sie umringten ihn: grimmige Gesichter, kaum zu erkennen unter den Pelz- und Wollmützen, ihre Bärte weiß vor Schnee.
    Es waren die Ritter der Neun Pforten, Geschworene des Fürsten von Aroc. Ihm hatten sie einst die Treue geschworen. Doch es gab keinen Fürsten mehr auf Aroc. Stanthimor Imer, der letzte Herrscher, war in Vara umgekommen, erdrosselt vom Kaiser selbst, wenn die Gerüchte stimmten. Der Fürstentitel war mit Stanthimors Tod erloschen, denn sein erstgeborener Sohn Timur war verschollen, und die restliche Familie hatte bislang keine Ansprüche erhoben – aus Furcht vor Kaiser Uliman. Seitdem waren die Ritter der Neun Pforten herrenlos. Sie wussten es, spürten es tief im Innern. Doch erst jetzt erwachte in ihnen das Gefühl der Ungebundenheit. Die Worte des Candacarers rüttelten sie auf, und sie tauschten ernste Blicke, aus denen der Stolz sprach, mit dem sie einst den Rittereid geleistet hatten.
    Zwei Kalender waren vergangen, seit die Nachricht vom Tod des Fürsten nach Aroc gedrungen war. Stanthimor Imer war ermordet worden, und mit ihm der gesamte Thronrat. Kaiser Uliman Thayrin, ein Kind, das erst seit kurzem auf dem Thron in Vara saß, hatte den Silbernen Kreis ausgelöscht. Die Nachfahren der Gründer waren tot, ihre Fürstenketten zersprungen. Die Folgen dieser Bluttat hatte auch Aroc zu spüren bekommen. Die Kirche des Tathril, die dem Kaiser treu ergeben war, hatte alle Macht auf der Insel an sich gerissen. Es hatte keinen Widerstand gegeben. Die Familie Imer hatte sich den Priestern gefügt, und mit ihr die Mächtigen der Insel, die Fischer, die Seefahrer und Kaufleute … und die Ritter der Neun Pforten.
    Doch damit war es vorbei. Einer Schreckensnachricht waren die nächsten gefolgt, auch wenn sie Aroc verzögert erreicht hatten. Die Zerstörung der Stadt Thax durch den aufständischen Priester Nhordukael; der Untergang des kaiserlichen Heeres bei Praa; das unaufhaltsame Vordringen der Goldéi … der Niedergang Sithars schien unaufhaltsam. Arocs Bewohner ahnten, dass die Echsen bald auch ihre Insel erreichen würden. Siccelda, die Nachbarinsel, war bereits gefallen. Nun war Aroc an der Reihe. Späher hatten eine feindliche Flotte gesichtet, die von Siccelda aus in See gestochen war – goldene Schiffe, umweht von Nebel. Am Abend, so hieß es, würden sie die Neun Pforten erreichen und Imris im Sturm nehmen, so wie die anderen Städte, wie Bilmephal und Kyrion, Nagyra und Larambroge, Harsas und Praa …
    Arocs Ende war nah.
    Die Ritter wussten es. Suuls Hauch wisperte
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