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Splitternest

Titel: Splitternest
Autoren: Markolf Hoffmann
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ihnen die Wahrheit zu. Er wehte strenger und kälter seit einigen Tagen. Schnee stob über das Gebirge hinweg, Hagelschauer prasselten auf die Bucht herab. Die Klaue des Winters, Arocs magische Quelle, spreizte ihre Finger und schüttelte die Eiskruste ab, die seit Jahrhunderten die Höhenzüge bedeckte. Zwei Dörfer waren von Lawinen erfasst, ein drittes von einem Eissturm verwüstet worden. Die Klaue des Winters schützte Aroc nicht mehr; sie wollte von den Goldéi befreit werden, so wie die anderen Quellen. Aroc würde untergehen, und Eis und Schnee und Frost würden die Insel umschließen, für immer.
    Ja, sie wussten es. Keiner der Ritter glaubte noch an einen Sieg. Viele hatten sich bereits mit einem Boot zum Festland geflüchtet, nach Ganata oder nach Thoka, einige Verwegene gar nach Troublinien. Nichts band die Ritter an die Kirche. Sie war in ihren Augen schuld an Sithars Niedergang, der junge Kaiser ihr Werkzeug und der Hohepriester Bars Balicor ein Heuchler, der von seinem Gott Tathril verlassen worden war. Nein, von dieser Kirche erhoffte man sich keine Rettung … eher von Nhordukael, dem Auserkorenen, den einige als wahren Hohepriester ansahen. Vielleicht konnte er Sithar retten und dieses wahnsinnige Kind vom Thron stürzen. Vielleicht konnte er Uliman mit Feuersglut aus dem Palast in Vara vertreiben und das Volk hinter sich scharen, um die Goldéi zu besiegen. Vielleicht, vielleicht …
    »Du weigerst dich also!« Der Priester hatte sich gefangen. »Wenn du mir nicht gehorchen willst – mir, den der Kaiser zum Stellvertreter auf Aroc bestimmt hat –, dann frage ich dich, was du sonst im Schilde führst. Willst du vor den Echsen das Haupt senken oder fliehen, während sie Aroc brandschatzen?«
    »Was ich tun will?« Der Candacarer stieß ein Lachen aus. »Was ich für richtig halte, Priester. Keine Sorge, ich werde nicht fliehen. Ich habe in Candacar gegen die Goldéi gekämpft, als du noch in einem troublinischen Tempel die Stufen geputzt hast. Aber wenn ich an diesem Tag die Neun Pforten verteidige, dann nicht, weil ein Priester es mir befiehlt, sondern weil ich es den Bewohnern dieser Insel schuldig bin. Sie haben mich aufgenommen, als ich aus Candacar fliehen musste. Ich lasse sie nicht im Stich.« Er wandte sich an die anderen Ritter. »Aroc wird sich den Goldéi nicht kampflos ergeben. Doch wie immer dieser Tag endet – die Priester des Tathril haben ausgespielt. Sie haben nichts getan, um die Echsen aufzuhalten. Ihre Herrschaft wird ein Ende finden, so oder anders.«
    Der Priester ließ voller Wut seine Peitsche durch die Luft knallen. »Dafür wirst du hängen, Gubyr! Du beleidigst den Kaiser, du beleidigst Tathrils Kirche und Tathril selbst.«
    Er wollte zum Schlag ausholen, doch der Blick des Candacarers ließ ihn zögern.
    »Du schlägst mich kein zweites Mal.« Gubyr setzte einen Schritt auf ihn zu. Auch die anderen Ritter erwachten aus ihrer Erstarrung und schlossen den Kreis um den Priester. »Wir pfeifen auf deine Befehle, wir pfeifen auf deinen Gott. Tathril schert sich nicht um unser Schicksal. Wir müssen es selbst in die Hand nehmen.«
    Er entwand dem Priester die Peitsche. Dieser wehrte sich nicht länger, starrte nur auf den Schnee zu seinen Füßen und schluckte den Zorn hinunter. Erst als er sich gesammelt hatte, hob er erneut die Stimme. »Du wirst diese Insel nicht retten, indem du uns Priester mundtot machst. Denke daran, was ich gesagt habe. Wenn du nicht Suuls Nacken erklimmst und die Neun Pforten verschließt, ist Aroc verloren.«
    »Keine Angst, ich werde hinaufgehen. Ich habe den Aufstieg schon einmal gewagt.« Gubyr baute sich vor den anderen Rittern auf. »Doch ohne Hilfe kann ich den Nacken nicht erklimmen. Jemand muss mich begleiten. Wie gefährlich es auf dem Gipfel ist, brauche ich keinem zu sagen.«
    Die Männer zögerten. Einige blickten auf den Berg, der sich hinter ihnen erhob: grau und zerklüftet, bepackt mit Eis. Deutlich zeichnete sich der Gipfel vor dem düsteren Himmel ab. Die Luft um ihn flimmerte. Dort oben tobte Suuls Hauch und schmirgelte das Eis mit böser Kraft. Sein Geheul ließ die Ritter bis ins Mark erschauern.
    »Ich komme mit dir.«
    Ein schlaksiger Mann, wohl dreißig Jahre alt, löste sich aus der Schar. Sein Gesicht war wie aus Marmor gemeißelt, weiß und glatt. Der Mantel war wettergegerbt, und er trug eine Haube aus pechschwarzem Leder. Üppige braune Locken quollen unter ihr hervor. Sein linker Handschuh zeigte eine edle Stickarbeit,
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