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Splitternest

Titel: Splitternest
Autoren: Markolf Hoffmann
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Südsegler vor sich ausgebreitet. Sein Zeigefinger wanderte an der Küstenlinie entlang, und er wisperte leise vor sich hin. Seit Tagen hatte er sich nicht den Bart geschert; ein Flaum umgab Wangen und Mund. Sein Priestergewand war ungewaschen, die Haare glänzten fettig. Gelegentlich zückte Delifor einen Kohlestrich und trug Worte auf der Karte ein; hier neben eine Bucht, dort neben eine Landzunge, die ins Meer ragte.
    Zu seinen Füßen lag ein Bündel; ein runder Gegenstand, den er in ein Tuch geschlagen hatte. Immer wieder wanderten Delifors Augen zu ihm hinüber, als fürchte er, jemand könne ihm das Bündel entwenden.
    Vom Norden näherte sich eine Gruppe Männer; ausgemergelte Kathyger. Ihre Kleider waren verdreckt und abgerissen. Der Anführer, ein kurzhaariger Mann von gedrungener Gestalt, schob sich an den singenden Frauen und Jünglingen vorbei. Er blieb vor Delifor stehen.
    »Bist du der Priester, von dem sie alle sprechen? Der Schreiber des Königs von Gyr?«
    Delifor kritzelte gedankenverloren auf der Karte herum. Dann erst ließ er den Stift fahren.
    »Hast du etwas gesagt?« fragte er. »Wer bist du?«
    »Cercinor aus dem Rochenland. Der Unbeugsame, so nannte man mich einst. Versuche deshalb gar nicht erst, mich abzuwimmeln.«
    Delifor blickte ihn nachdenklich an. »Aus dem Rochenland – ein Kathyger also.« Er zeigte Cercinor die Karte. »Wie bist du hergelangt? Wer brachte dich über das Silbermeer, und wo genau kamst du an?«
    Cercinor runzelte die Stirn. Erstaunt wanderten seine Augen über die Karte. »Ist dies die Welt, die Laghanos uns schenkte? Woher hast du diese Karte?«
    »Antworte«, forderte Delifor. »Wo kamst du an?«
    Cercinor deutete unsicher auf einen Flecken südlich von Venetor. »Dort. Ein riesiger Forst, gewaltiger noch als der Arkwald. Laghanos führte uns zu ihm.« Seine Hand zitterte. »Und dieser Wald wächst … seine südlichen Grenzen verschieben sich Nacht für Nacht. Neue Täler und Senken entstehen. Bäume schälen sich aus dem Nebel. Rehe und Hirsche wandern umher. Vögelschwärme ziehen über die Wipfel hinweg. Und es gibt noch andere riesige Tiere, mit zottigem Fell und gewaltigen Hauern. Es ist ein Wald wie auf Gharax, nur größer und fremder … Laghanos hat ihn erschaffen.«
    Delifor nickte. »Ich habe diesen Wald gesehen, aus der Ferne. Du musst mir alles über ihn erzählen, damit ich ihn auf der Karte einzeichnen kann.« Er erhob sich. »Warum hast du ihn verlassen? Was suchst du hier im Norden?«
    »Die Hälfte meiner Leute starb vor zwanzig Tagen, als ein schwarzer Dunst über den Wald kroch.« Furcht glänzte in Cercinors Augen. »Sie erstickten … der Rest wurde halb wahnsinnig vor Angst. Sie haben mich ausgesandt, damit ich erfahre, woher dieser tödliche Hauch kam, und damit ich andere Überlebende finde.«
    »Dann führte dich dein Weg wohl in die Stadt Venetor«, folgerte Delifor. »Dort hast du meinen Namen vernommen. Wurde dir auch von der Schlacht berichtet, die bei Venetor tobte?« Er rollte die Karte zusammen. »Nur wenige Männer kehrten aus ihr zurück. Der schwarze Hauch wütete auch dort. Tausende starben, als er mit dem Regen auf das Schlachtfeld niedersank.«
    Cercinor der Unbeugsame zögerte, ehe er weitersprach. »Es heißt, dort hätten zwei Könige gegeneinander gekämpft. Tarnac von Gyr und Eshandrom von Kathyga …«
    »Sie rangen beide um die Herrschaft«, bestätigte Delifor. »Beide haben in diesen schreckliche Stunden versagt, und beide blieben auf dem Schlachtfeld zurück.«
    Cercinor packte den Priester am Ärmel. »Ist das wahr? Eshandrom ist tot?«
    »Sein Leichnam wurde zwei Tage nach der Schlacht gefunden, halb im Schlamm versunken. Wir ließen ihn dort stecken.« Ein harter Zug umspielte Delifors Mund. »Nur Tarnacs Leiche fanden wir nicht, aber auch er muss in der Schlacht den Tod gefunden haben. Keiner hat ihn je wieder gesehen.«
    »Sie sind also beide tot.« Cercinor seufzte. »Das ist eine gute Nachricht. Wir Rochenländer hassten Eshandrom, kein Tag verging ohne den Wunsch nach Rache.«
    Er lauschte den Klängen der Brashii. Noch immer riefen die Frauen Delifors Namen; sie tanzten im Bachbett und winkten verzückt in Richtung des Priesters.
    »Für uns Menschen beginnt ein neues Kapitel«, sagte Delifor. »Die Erinnerung an Gharax verblasst. Ich aber werde sie bewahren, indem ich die Geschichte des Zeitalters der Wandlung aufschreibe. Es war Tarnacs Idee. Aber nun, da er tot ist, kann ich das Werk ohne seine
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