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Splitternest

Titel: Splitternest
Autoren: Markolf Hoffmann
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weinten, die Greise flehten um Brot. Die Bewohner von Vara waren ratlos, was sie mit ihnen tun sollten. Sie hatten die Flüchtlinge schließlich zum Gorjinischen Markt geführt, wo noch immer der Flötenspieler seine Weisen zum besten gab.
    Das Gespräch in der Menge hielt an. Lautstark berieten sich die Menschen, darunter die hagere Frau, der Kahlköpfige und der ehemalige Weißstirn.
    »Aus Gehani kommen sie also … wer hat sie hergebracht? Die Goldéi?«
    »Nein, eine Frau soll es gewesen sein. Sie führte die Menschen vor die Tore. Dann ließen die Nebelwesen sie durch.«
    »Wie viele sind es? Jemand sollte sie zählen.«
    »Sie sehen elend aus. Sie müssen seit Tagen unterwegs sein.«
    »Gebt ihnen zu essen. Die Speicher des Palasts enthalten genug Brot für alle. Wir werden ein paar Fuhren holen … vor allem die Kinder brauchen etwas in den Mägen.«
    »Und wenn weitere kommen? Was machen wir dann? Wo bringen wir sie unter?«
    »Es gibt ja nun genug Häuser, die leerstehen. Und vergesst nicht die Glastürme! Ich habe mich in einen hineingewagt, und die Räume sind großzügig und sonnig.«
    »Die Türme? Warum nicht? Wenn wir sie mit Leben füllen, wird das der Stadt gut tun.«
    Die Stimmen schwirrten aufgeregt umher, untermalt von den Klängen der Flöte. Noch immer wurde zu ihnen getanzt. Einige Leute schenkten Wein aus, den sie aus den Kellern ihrer Häuser geholt hatten. An anderer Stelle hatte jemand ein Feuer entzündet und röstete Brot über der Flamme. Die Stimmung war gelöst.
    »Nun lasst die armen Kerle nicht im Winkel herumstehen! Heißt sie willkommen, holt sie herbei. Sie sind von nun an unsere Mitbürger, warum sollen wir über ihre Köpfe hinweg entscheiden?«
    »Ja, sie sollen kommen. Sie sind …«
    Die hagere Frau, die zuletzt gesprochen hatte, hielt mitten im Satz inne. Sie hatte einen Mann in der Menge erspäht. Er trug ein Kind in den Armen. Sein Gesicht mit den leuchtendgrünen Augen war ihr vertraut.
    »Seht doch«, stieß sie erschrocken hervor. »Der Fürst!«
    Die Leute drehten sich nach Baniter um. Er lauschte schon eine ganze Weile ihren Reden. Für einen Augenblick herrschte beklommenes Schweigen.
    »Sprecht weiter«, sagte Baniter schließlich. »Ich höre nur zu.«
    »Wir beraten darüber, was mit den Flüchtlingen geschehen soll«, sagte die Frau kleinlaut. Sie schien auf die Zustimmung des Fürsten zu warten.
    »Ihr werdet schon eine Lösung finden.« Baniter lächelte und strich über den Kopf des Säuglings. »Entschuldigt mich bitte.«
    Er wandte sich ab. Die Leute zögerten. Dann nahmen sie das Gespräch wieder auf.
    »Überhaupt, die Vorräte … sie werden ja nicht ewig halten. Wir müssen neues Korn anbauen, auf den Feldern innerhalb der Stadtmauern.«
    »Viele der Bauern sind tot, andere verschollen«, antwortete jemand. »Wir sollten die Felder neu vergeben. Der Winter naht.«
    »Unter den Ganatern gibt es sicher den ein oder anderen Bauern. Fragt sie danach, und auch nach Schmieden, Schreibern, Kürschnern. Wir brauchen jeden, wenn diese Stadt überleben soll!«
    Weitere Vorschläge kamen aus der Menge, vereinzelt auch Widerspruch und Bedenken. Aber der Eifer der Versammelten war groß, und bald wurden die ersten Entscheidungen gefällt, damit das Leben in Vara weitergehen konnte.
     
    Baniter war längst zum Ende des Marktplatzes geschritten, wo die Flüchtlinge warteten. Sie lauschten den Melodien des Flötenspielers. Dieser stand halb im Sonnenlicht, halb im Schatten eines Turms, und dieser zerschnitt sein Gesicht in eine dunkle und eine helle Seite und ließ es absonderlich wirken.
    Spiel weiter, dachte Baniter, während er die Flüchtlinge beobachtete. Lass sie für kurze Zeit vergessen, dass sie alles verloren haben. Er kannte viele dieser Menschen; den Hufschmied aus der Burg von Gehani, den alten Fährmann, der mit seinem Boot stets den Dumer befahren hatte, und die Krämerin, die häufig am Stadttor ihre Waren feilgeboten hatte. Noch hatten sie den Fürsten nicht bemerkt, und er war froh darüber.
    Dann sah er eine Frau unter den Flüchtlingen. Sie hatte den Kopf gesenkt, die Arme um den schlanken Leib geschlungen. Blonde Haare umrahmten ihr Gesicht. Es war halb verdeckt von einer dunklen Augenbinde. Um sie standen ihre Töchter; die älteste war schon eine junge Frau und stützte die Mutter. Die anderen zwei waren jünger. Sie tuschelten miteinander und lachten über den Flötenspieler, der zwischen den Schatten umhertänzelte.
    Baniter atmete tief durch.
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