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Splitternest

Titel: Splitternest
Autoren: Markolf Hoffmann
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Dann schritt er auf die kleine Gruppe zu.
    Das jüngste Mädchen bemerkte ihn zuerst. Mit großen Augen starrte es Baniter an. Zögerte. Rannte ihm dann entgegen.
    »Marisa«, flüsterte er.
    Schon war sie bei ihm, rannte ihn fast um, umarmte ihren Vater, zupfte an seinem Hemd, seiner Hose, seinem Mantel, weinte und schluchzte, dass er kaum verstehen konnte, was sie ihm sagen wollte. Er ging in die Hocke, küsste ihre Stirn, sagte wieder und wieder ihren Namen, »Marisa … meine Süße …« Und dann waren auch ihre Schwestern bei ihm; die flinke, ernste Banja und Sinsala, schöner und reifer als in seiner Erinnerung, ihre Augen wie die ihrer Mutter, blau und klug und voller Wärme.
    Er weinte, erhob sich, küsste Sinsala, die sich an ihn drängte. Dann wanderten seine Blicke zu der Frau, die unweit von ihnen verharrte. Sie hatte ihm das Gesicht zugewandt. Die Augenbinde ließ ihr Gesicht bleich erscheinen.
    Vorsichtig reichte er den Säugling seiner ältesten Tochter.
    »Halt sie gut fest, Sinsala«, raunte er ihr ins Ohr. »Es ist deine Schwester.«
    Er humpelte auf Jundala zu. Sie hörte seine Schritte. Ihre Lippen bebten.
    Als er vor ihr stand, verdeckte sie das Gesicht mit den Händen.
    »Nicht, Baniter. Komm nicht näher.«
    Er berührte sanft ihre Schultern.
    »Meine Augen … du wirst mich nicht wieder erkennen.«
    Er schob sanft ihre Hände zur Seite und löste die Augenbinde.
    »Sie schmolzen, als ich mich von Laghanos abwandte«, flüsterte sie, »als ich die Mondsichel nahm und den Weg nach Vara einschlug. Laghanos hat sich an mir gerächt, mich gezeichnet für immer.«
    Er umarmte sie und küsste ihren Nacken. »Wir alle sind durch die Sphäre gezeichnet. Sie hat uns blind gemacht für das, was zählt. Aber nun sind wir in Sicherheit. Hinter diesen Mauern kann uns Sternengänger nichts anhaben.«
    Jundala krallte sich an seinem Mantel fest. Sie spürte Baniters Tränen an ihren Wangen herablaufen, und für einen Augenblick glaubte sie, es wären ihre eigenen.
     
    Auf dem Marktplatz verhallte der letzte Flötenton. Der Schattenspieler setzte sein Instrument ab. Er zwinkerte Baniters Töchtern zu. Dann wanderten seine Blicke über den Gorjinischen Markt, und er lauschte den vielen Stimmen, den Gesprächen, dem Lachen der Kinder.
    »Nun, meine Freunde«, sagte er heiter, »so schließt sich der Kreis. Ein neues Athyr’Tyran ist geboren, eine Zuflucht für die Menschen von Gharax. Es herrscht wieder Frieden zwischen ihnen und den Sphärenwesen. Die Quellen sind frei, die Schatten fliehen in einen Park, auf einer fernen Insel im Silbermeer.« Er steckte die Flöte fort. »Das Verlies schließt seine Pforten. Leb wohl, Athyr’Tyran. Traue nicht noch einmal jenen, die über die Sphäre herrschen wollen. Dann wirst du ewig bestehen und Hoffnung sein für alle Verlorenen, die Sternengänger fortgelockt hat.«
    Er schritt rückwärts in die Schatten, die zwischen den gläsernen Türmen umherwanderten. Bald verschwand er in ihnen und entzog sich allen Blicken.
    Niemand bemerkte sein Verschwinden. Die Tore des Verlieses schlugen lautlos hinter ihm zu.
    Das letzte Band zwischen Athyr’Tyran und der Sphäre war durchtrennt.

 
KAPITEL 14
     
    Wandlung
     
    Fröhlich plätscherte der Bach dahin. Seine Fluten waren gefärbt von der braunen Erde, die er mit sich trug. Er war jung, hatte sein Bett noch nicht gefunden, strömte mal ruhiger, mal wilder in gewagten Biegungen über das Land und strebte dem Meer entgegen.
    Am Ufer hatten sich einige junge Menschen gesammelt, die meisten weiblich, aber auch einige Männer waren darunter. Alle trugen die Haare lang und offen; flachsfarbenes Gyranerhaar. Ein schlaksiger Bursche spielte auf einer Drehleier; ihr Holz war zerkratzt, die Saiten rosteten. Die Brashii klang verzerrt, aber der Junge spielte mit solcher Hingabe, dass ihre Melodie alle Herzen berührte. Die Frauen wiegten ihre Köpfe zu der Musik und wisperten einen Namen.
    »Delifor … Delifor …«
    Sie sprachen ihn mit Ehrfurcht. Ihre Augen waren auf den Bach gerichtet. Eines der Mädchen bückte sich, schöpfte Wasser und spritzte es in die Richtung der anderen.
    »Delifor … dein ist das Wasser … dein ist das Meer … reinige es … reinige uns …«
    Sie wiederholten die Worte wieder und wieder.
    »Reinige uns … Delifor … reinige uns …«
    Der Chor ihrer verzückten Stimmen hallte über das Land.
    Der Mann, dessen Namen sie riefen, saß unweit des Bachs auf einem Stein. Delifor hatte die Karte der
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