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Spiel des Lebens 1

Spiel des Lebens 1

Titel: Spiel des Lebens 1
Autoren: Etzold Veit
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Meter statt fünf Meter tief, und wenn sie dann irgendwo auf dem Boden aufschlagen würde, wäre ihr das auch egal. Denn dann wäre es vorbei.
    Dennoch: Vorwärts. Weiter.
    Dahinter ein neuer Korridor. Ein seltsames Rauschen hob an, so als würde ein Fluss in dieser unterirdischen Welt fließen. Und Emily merkte, und roch, sehr schnell, was für ein Fluss das war. Es war die Kanalisation, und Ratten tauchten quiekend auf und unter in dem brackigen, stinkenden Wasser, während gleichzeitig ein tiefes Rumpeln anhob, das die Steine des Ganges und die Oberfläche des Wassers vibrieren ließ, das lauter wurde und wieder verschwand.
    Die U-Bahn, dachte Emily. Sie ist gerade über mir hinweggefahren.
    Und nach hundert Metern sah sie das Licht, sah ein riesiges Gewölbe, das sich vor ihr öffnete, ebenfalls in gespenstisch blaues Licht getaucht. Links davon, hinter einer Rampe, verliefen die Schienen der U-Bahn, die hier offenbar entlangfuhr und auch vorhin entlanggefahren war, als Emily das Rumpeln in dem finsteren Gang mit dem brackigen Wasser gehört hatte. Allmählich schälten sich Gestalten aus der Dunkelheit. Und bizarrerweise standen zwei Stühle auf einem kleinen Vorsprung, es waren ganz normale Holzstühle, und sie standen ordentlich nebeneinander. Über den Stühlen ein riesiges Gewölbe, mit moosbesetzten Steinen, einem gigantischen Mausoleum gleich, bei dem sich Dutzende von schemenhaften Gestalten zu einer unterirdischen Bestattung zusammengefunden hatten. Kerzen flackerten in den Ecken, gemischt mit dem bläulichen Licht der Neonlampen, die die Schienen der U-Bahn säumten, die U-Bahn, die in einiger Entfernung schon wieder grollend ihr Kommen ankündigte. Ratten huschten hier und da hervor, hoben witternd den Kopf, blickten mit blitzenden Augen in die Finsternis und verschwanden, wie sie gekommen waren.
    Emily trat ins Gewölbe. Sie spürte, wie das Licht sie erfasste, hörte hinter sich das Huschen der Ratten, fühlte den Luftzug, der entsteht, wenn sich in einiger Entfernung irgendetwas Großes nähert, etwas Großes, Dunkles und Gefährliches.
    Es waren nur ein paar Sekunden, in denen sie das alles wahrnahm, doch es kam ihr vor wie eine Ewigkeit. Wie ein Flickenteppich aus Bildern, der erst allmählich zu einem Film wurde, so als würde sich ihr Bewusstsein weigern, das, was sie sah, als wirklich zu akzeptieren. Doch es war wirklich. Denn wenn es schön war, dann war es meist ein Traum. Und wenn es schrecklich war, dann war es wahr. Und während sie, wie in Trance in das Gewölbe trat, konnte sie den Blick nicht von den Stühlen nehmen. Den Stühlen und den zwei Menschen, die darauf saßen.
    Patricia und Thomas Waters.
    Ihre Eltern.
    Und sie waren am Leben.
    Die zwei saßen auf den Holzstühlen, um sie herum eine Menge anderer Umrisse unterschiedlicher Größe. Jonathan hatte sie nicht angelogen.
    Und dort war er auch, eine kleinere Gestalt zwischen all den dunklen Silhouetten, die entlang der Wände standen. Er trat vor, die Hände in die Hüften gestemmt.
    »Emily«, sagte Jonathan und schüttelte den Kopf, »da bist du ja endlich. Du hast deine Geburtstagsgäste wirklich lange warten lassen.«
    Ihr Blick glitt von Jonathan zu ihren Eltern.
    Am eindringlichsten war die Angst. Die Angst in den Augen ihrer Eltern, die gefesselt und geknebelt waren. Emily schaute in diese Augen, sah, wie sie sie anflehten, jetzt ja nichts Falsches zu sagen oder zu machen.
    Jonathan lächelte. Natürlich lächelte er.
    Und vielleicht gab das den Ausschlag.
    Ja, ganz sicher gab das den Ausschlag. Denn Emily wusste, sie konnte dieses überlegende Lächeln nicht mehr ertragen, das ihr bedeutete, dass er immer den Sieg davontragen würde, egal, was sie auch versuchte. Das bedeutete, dass er sein Katz-und-Maus-Spiel bis in alle Ewigkeit fortführen würde. Dass er sie jagen würde und sie die Gejagte wäre. Und dass sie es niemals verhindern könnte. Außer, wenn sie aufhören würde, zu existieren.
    »Es ist fünf Minuten vor zwölf«, sagte Jonathan und blickte auf seine Uhr, »und ihr alle habt nur noch fünf Minuten zu leben.«
    Sie hörte das Rauschen der U-Bahn, die sich näherte und Jonathans Worte unheimlich untermalte.
    Und in diesem Moment lächelte Emily. Und sie meinte es genauso. Ja, sie freute sich auf das, was jetzt kam. Denn manchmal gab es keinen richtigen Weg. Manchmal gab es nur die Wahl zwischen einer falschen und einer ganz falschen Entscheidung. Und manchmal war es besser, das Falsche zu tun, als gar nichts
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