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Spiegelkind (German Edition)

Spiegelkind (German Edition)

Titel: Spiegelkind (German Edition)
Autoren: Alina Bronsky
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Mein verdrehter Hals schmerzte schon, also verschob ich meinen Stuhl, um besser sehen zu können. Auch andere Schüler hatten sich der Neuen zugewandt.
    »Hallo«, sagte Ksenia heiser und grinste in die eisigen Gesichter.
    Nein, ein Junge war sie trotz der Hosen eher nicht.
    Der Tutor starrte die Neue an. Er hatte den Faden verloren. Und offenbar dachte er gerade das Gleiche wie alle anderen, mich eingeschlossen: Wie um Himmels willen kam denn so jemand ans Lyzeum?
    Ksenia ließ sich von den Blicken nicht stören, sondern fuhr unbeeindruckt fort: »Das Gestern, wollte ich eben sagen, ist nicht die Basis für heute. Ganz bestimmt nicht. Das Heute existiert ganz von alleine, verstehen Sie? Gestern, heute und morgen existieren gleichzeitig und ziemlich unabhängig voneinander!«
    Der Tutor räusperte sich. »Das besprichst du am besten mit deinem Lernbegleiter in der Einheit abendländische Philosophie. Und wir kümmern uns jetzt um die Phonetik des Putonghua.«
    Und er öffnete den Mund, um Töne zu produzieren, die sich für mich immer noch wie Miauen anhörten – wir hatten Chinesisch erst seit diesem Jahr.
    Er ging mit uns eine Reihe neuer Zeichen durch, dann klatschte er erneut in die Hände. »Bildet bitte Paare und guckt euch ganz genau in den Mund.«
    Links und rechts von mir verzogen sich die Gesichter – wer tat so was schon gern, außer man hatte sich gerade einen neuen Kunstbrillanten in die Zähne einsetzen lassen. Für mich war Gruppenarbeit das Zweitschlimmste – nach persönlichen Berichten am Anfang der Stunde. Und heute hatte ich besonderes Pech.
    Denn schon saß die Neue an meiner Seite und grinste.
    Ich konnte ihr nicht einmal richtig böse sein. Irgendjemanden musste es treffen und es war klar, dass sich niemand freiwillig als ihr Partner melden würde. Sie war neu und sie sah zu seltsam aus. Sie konnte nie im Leben eine Normale sein. Sie sah aus wie ein Freak. Sie gehörte einfach nicht hierher. Freaks wie sie gingen nicht auf unser Lyzeum, sie hingen im Zentrum rum, betranken sich am helllichten Tag und brauten sich neuen Stoff zusammen, den sie dann mit falschen Versprechungen an normale Teenager verhökerten, die vom Lernstress überfordert waren. Am Abend lagen sie im Gebüsch. Sie hatten Läuse und ansteckende Krankheiten.
    Wie konnte es passieren, dass sie plötzlich hier saß?
    Und, noch tragischer, direkt an meiner Seite?
    Ich sah mich um. Alle anderen waren schneller als ich gewesen und warfen mir schadenfrohe Blicke zu.
    Ich blieb selten bei der Partnerarbeit übrig, dafür war ich zu gut und zu unkompliziert. Die meisten wussten, dass es angenehm und effektiv war, mit mir zusammenzuarbeiten. Aber einen festen Partner hatte ich nicht, genauso wenig wie meine Mitschüler. Ihr könnt mich alle mal, dachte ich und sagte zu der Neuen: »Juli.«
    »Ksü«, lächelte sie. »Schreibt sich nicht Xy, sondern wie es ausgesprochen wird.«
    »Ich kann lesen und schreiben«, sagte ich trocken.
    »Glückwunsch!« Sie grinste breit und ich war erstaunt über das Strahlen ihrer schneeweißen Zähne. Offenbar hatte ich automatisch eine Reihe schwarzer Zahnstummel erwartet. Und außerdem noch, dass sie mich mit Fragen überschütten würde. Schließlich war sie neu und hatte keine Ahnung. Ohne Anleitung konnte man auf dem Lyzeum nicht mal die Toiletten finden, weil sie nicht gekennzeichnet waren.
    Aber Ksü fragte erst mal gar nichts, sie blätterte in meinem Lehrbuch. Ich starrte sie verstohlen an. Auch ihre Fingernägel waren überraschenderweise sauber. Vielleicht war sie doch kein Freak, sondern kam von irgendwoher, wo auch die Normalen sich so anzogen? Ein blödsinniger Modetrend, der bald Vergangenheit sein würde, wie die Aufklebetattoos, mit denen vor einigen Jahren normale Jugendliche gern ihre Eltern schockiert hatten.
    »Ist wahrscheinlich schwierig«, sagte ich. »So mitten im Jahr einzusteigen.«
    »Es gibt Schlimmeres«, sagte Ksü. Sobald ich eine Vorstellung von eurem Tempo habe, kann ich das gut nacharbeiten.«
    Da sie noch keine Vorstellung von irgendwas hatte, konnten wir auch nichts zusammen üben. Die einzige Silbe, die sie meinte zu beherrschen, war das Ma. Und so, wie sie es aussprach, war komplett unklar, ob sie dabei Mama, Pferd, schimpfen oder Hanf meinte. Von der Betonung hatte Ksü absolut keine Ahnung.
    Eigentlich hätte ich dem Tutor sofort melden sollen, dass Ksü mich in meinem Lernfortschritt behinderte. Aber ich brachte es nicht übers Herz. Ich hoffte ein bisschen
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