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Spiegelkind (German Edition)

Spiegelkind (German Edition)

Titel: Spiegelkind (German Edition)
Autoren: Alina Bronsky
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goldene Türklinke und drücke sie ganz langsam herunter.
    Ich habe das Gefühl, so etwas schon einmal erlebt zu haben. Gleichzeitig zu träumen und zu lauschen. Ich rühre mich nicht. Jeder Atemzug würde mich verraten. Ich bin diesmal bereit, es zu hören.
    Mein Vater liegt im Bett, sein langer magerer Körper ausgestreckt unter der dünnen Decke, seine Augen geöffnet. Meine Mutter kniet auf dem Boden. Sie stützt sich mit den Händen auf der Matratze ab, aber jedes Mal, wenn die Hand meines Vaters in ihre Richtung kriecht, zieht sie ihre zurück. Sie will nicht angefasst werden.
    »Ich habe auf dich gewartet.« Die Stimme meines Vaters ist schwach, ich kann sie gerade so hören. »Ich habe ihnen allen gesagt, niemand darf bei mir sein, damit du ohne Angst kommen kannst. Ich wollte es dir beweisen. Du kannst mir vertrauen.«
    »Ich weiß«, sagt meine Mutter. Sie dreht ihren Kopf leicht zur Seite, aber sie kann mich nicht sehen. Sie kniet mit dem Rücken zur Tür. Trotzdem denke ich, dass sie weiß, dass ich da bin.
    »Ich kann nicht mehr«, raschelt die Stimme meines Vaters durch den Raum. »Du musst mir helfen.«
    »Ich habe dir schon alles gegeben, was ich kann«, sagt meine Mutter. »Wenn ich dir noch mehr helfe, bleibt nichts mehr von mir übrig. Ich muss mich schützen. Ich habe Kinder.«
    »Dann lass sie mir«, flüstert mein Vater. »Sie hält mich am Leben.«
    »Nein«, sagt meine Mutter.
    »Sie ist auch meine Tochter«, raschelt es durch den Raum wie Wind durch trockenes Gras. »Ich habe ein Recht auf sie.«
    »Nicht darauf«, sagt meine Mutter. Sie ist sehr aufrecht, ihre Hand zieht sich wieder unter den Fingern meines Vaters zurück.
    »Aber dann bin ich am Ende«, sagt mein Vater. Ich kann keine Tränen erkennen, höre aber, dass er weint. »Kannst du nichts mehr für mich tun? Ich will mich nicht weiterquälen.«
    »Ich kann nur noch eins für dich tun«, sagt meine Mutter. »Aber davor hast du die größte Angst überhaupt.«
    »Ich habe vor nichts mehr Angst«, flüstert mein Vater.
    »Du weißt, was ich machen kann«, sagt meine Mutter. »Willst du das wirklich?«
    Mein Vater zögert.
    »Ist es genauso wie das andere, nur andersrum?«
    »Genauso.«
    »Tut es weh?«
    »Nicht dir.« Sie macht eine Bewegung, will aufstehen.
    »Bleib!« Der Ruf meines Vaters hält sie zurück. Meine Mutter sinkt wieder auf die Knie.
    »Mach es jetzt«, sagt er. »Ich kann nicht mehr.«
    »Sicher?«
    »Ja.«
    Am liebsten würde ich jetzt die Tür schließen, aber ich habe Angst, dass jede kleinste Bewegung stören könnte. Ich halte die Luft an. Meine Mutter nimmt beide Hände meines Vaters in ihre. Mehr kann ich nicht sehen.
    Einige Sekunden lang passiert nichts. Und dann verzerrt sich sein Gesicht, er bäumt sich auf, ich habe das Gefühl, dass er gerade laut schreit, kann aber nichts hören, als wäre der Ton abgedreht.
    Und dann liegt er wieder in den Kissen, das Gesicht friedlich.
    »Danke dir«, sagt er, bevor er die Augen schließt.
    »Verzeih mir«, sagt meine Mutter. Sie lässt die Hände meines Vaters los, kreuzt seine Arme mit einer sicheren Bewegung über seiner Brust, hält eine Hand an seinen Mund. Die Lippen meines Vaters bewegen sich eigenartig, sein eben noch so entspanntes Gesicht verzerrt sich noch einmal, wird zur Fratze, der Mund zieht sich auseinander. Ich kann meinen Augen nicht trauen, als seinen Lippen ein kleiner grauer Vogel entschlüpft, von der Hand meiner Mutter aufgefangen wird, sich aufplustert und schüttelt.
    Sie setzt ihn auf ihre linke Schulter, erhebt sich, bleibt einen Augenblick lang vor dem Bett stehen und schaut herunter auf meinen Vater. Ich kann ihr Gesicht dabei nicht sehen. Dann geht sie hinaus.
    In der Tür stößt sie mit mir zusammen. Ich kann vor Entsetzen kaum etwas sagen, sie blickt durch mich hindurch, müde und traurig.
    »Juli«, sagt sie. »Meine Älteste. Lass uns nach Hause gehen.«
    Sie schließt die Schlafzimmertür, nimmt meine Hand.
    »Aber …« Ich will noch mal ins Zimmer, aber sie hindert mich daran.
    »Nicht umdrehen. Niemals.«
    Ich gehorche. Der Vogel auf ihrer Schulter putzt sich das Gefieder.
    Ich stelle die Frage nicht laut. Inspiro, pocht es durch meinen Kopf. Wie bei Ksü. Ein Atem, der gar nicht einem selbst gehört. Ein Leben, das geliehen scheint. Ist das wirklich so? Ich weiß zu wenig, um darüber zu urteilen.
    Der Vogel schlägt mit den Flügeln gegen meine Wangen.
    Meine Mutter drückt meine Finger fest zusammen. Ihre sonst so warmen Hände
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