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Spiegelkind (German Edition)

Spiegelkind (German Edition)

Titel: Spiegelkind (German Edition)
Autoren: Alina Bronsky
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nicht klar, wie das gehen kann.
    »Da hält jemand vorm Haus.« Ksü hat sich kurz aufgerichtet, um aus dem Fenster zu schauen, aber jetzt geht sie schnell wieder in die Knie. »Ein Polizist.«
    »Was will der schon wieder hier?«
    »Wir müssen weg. Sofort.« Ksüs Hand zittert. »Mach schon.«
    »Ich weiß nicht mehr, wie das geht!«
    Ich presse meine Wange gegen die Leinwand.
    »Mama«, flüstere ich in den gemalten Rücken des Mädchens hinein. »Mama, wenn du irgendwo da bist, hilf mir. Ivan ist verletzt. Ich hab vergessen, wie man wieder zu dir kommt. Ich glaube nicht mehr, dass wir da durchkönnen. Laura!«
    »Schritte auf der Treppe«, sagt Ksü panisch.
    Die Dielen quietschen. Es scheint, als wollte uns das ganze Haus warnen, dass ein Eindringling es betreten hat, der Gänge abläuft, Türen aufreißt, Scherben unter seinen Schuhsohlen knacken lässt.
    »Mama!«
    Der kleine Raum, in dem Ivan auf der Couch liegt und ich und Ksü uns ängstlich aneinanderpressen, befindet sich am Ende des Flurs. Die Schritte werden lauter. Der Polizist betritt das Zimmer gerade in dem Moment, in dem zwei langgliedrige, zarte Hände sich plötzlich aus dem Quadrum strecken und Ivan hineinziehen.
    Wir hocken da wie zwei verschreckte Kaninchen. Ivan ist verschwunden. Der Polizist schaut uns an.
    »Was macht ihr hier?«
    »Ich wohne hier«, flüstert Ksü.
    Der Polizist hat ein rundes Gesicht. Er sieht nett aus, so nett, wie Polizisten eben sein können, wenn sie Kinder über die Straße begleiten. Er wirkt verwirrt. Er hat nicht damit gerechnet, uns hier anzutreffen, ich weiß sowieso nicht, womit er gerechnet hat. Ob ihn jemand von seinen Vorgesetzten, die ihn hierhergeschickt haben, vorgewarnt hat oder ob er den Schlamassel ahnungslos beseitigen soll.
    »Das war alles die Polizei«, helfe ich ihm auf die Sprünge. »Ihre Kollegen sind mit Hubschraubern und Motorrädern gekommen und haben die Hausbewohner angegriffen.«
    »Die Polizei macht das nur im äußersten Notfall«, belehrt mich der Beamte. »Wer ist hier der Hausherr?«
    Ksü und ich wechseln Blicke. Ich warte darauf, dass Ksü »ich« sagt. Aber sie sagt nur:
    »Der ist weg.«
    »Weg?«
    »Ja. Fragen Sie Ihre Kollegen, vielleicht wissen sie mehr darüber.«
    Der Polizist wirft uns einen ratlosen Blick zu und holt sein Funkgerät raus. Wenn er sich nur für eine Minute entfernt hätte, hätte ich mich aufs Quadrum geworfen und Ksü mitgezogen. Aber er lässt uns nicht aus den Augen. Wir hören eine krächzende Stimme, die von ihm Angaben zum Tatort einfordert. Der Polizist sagt, er habe zwei Mädchen mit schmutzigen Gesichtern gefunden, zwei Freaks, eine mit einem Schlangen-Tattoo auf dem Kopf, die andere mit blauen Haaren.
    »Hat die Blaue eine Nummer?«, krächzt das Gerät.
    Der Polizist greift nach meinem Arm, schüttelt ihn, das Armband rutscht zu seiner großen Überraschung unter dem Ärmel hervor. Er liest die Nummer ein.
    Als er sie durchgibt, weiß ich, dass Ksü und ich verloren haben.

Die Krankheit
    Wir quetschen uns auf die Rückbank des mintgrünen Polizeiautos, der Beamte setzt sich uns gegenüber. Er lässt mich nicht mehr aus den Augen. Ich klammere mich an Ksüs Hand, ich will verhindern, dass wir getrennt werden.
    Es dauert über eine Stunde, bis der Kleinbus die Stadt durchquert hat, und ich beginne, die weißen Häuser und die Buchsbaumhecken meines Viertels wiederzuerkennen. Ich schaue aus dem vergitterten Fenster. Versuche, mich zu erinnern, wie ich diese Straßen mit eigenen Füßen abgelaufen bin, arglos, naiv, viele Jahre lang bis zu dem Tag, an dem meine Mutter verschwand. Aber ich kann keine Gefühle wachkitzeln. Dieser Teil meiner Erinnerung bleibt merkwürdig leer, als hätte ich all die Jahre gar nicht selber erlebt. Vielleicht hat sich der Verlust für Ksü ähnlich angefühlt, bis sie den Wald meiner Mutter betreten hat.
    »Dein Vater wird dich schon in Ordnung bringen.« Der Polizist nickt mir aufmunternd zu. »Ich hab noch nie ein normales Mädchen gesehen, das so rumläuft wie du.«
    »Ich auch nicht«, sage ich und schaue aus dem Fenster. Ich ärgere mich nicht über den Mann, ich habe das Gefühl, seine schlichten Gedanken lesen zu können. Er ist nicht boshaft, aber immer bereit, jede zarte Pflanze illegalen Lebens auszureißen, die es wagt, sich durch die Ritzen seines normalen Daseins zu drängen. Auf den Schultern von Leuten wie ihm hat sich die Gesellschaft der Normalität aufgebaut. Er fühlt sich wohl darin, er ist bereit,
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