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Spiegelkind (German Edition)

Spiegelkind (German Edition)

Titel: Spiegelkind (German Edition)
Autoren: Alina Bronsky
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andere zu opfern, damit es nur so bleibt. Auch er ist schuld an dem, was meiner Mutter und Ksüs Eltern zugestoßen ist.
    Der Kleinbus hält an, die automatische Tür fährt zur Seite. Ich klettere raus, halte Ksü die Hand hin. Ich habe immer noch Angst, dass man uns trennen wird, wenn wir nicht aufpassen. In dem Moment, in dem ich ihre Hand berühre, muss ich an den Inspiro in ihrem Körper denken. Meine Hand zuckt zurück, aber mein Wille ist stärker als der kurz aufsteigende Ekel.
    Ich laufe voran, Ksü an meiner Seite, der Polizist hinterher. Ich will nicht, dass er mich ins Haus schleppt wie einen entlaufenen Mops, auf den eine Belohnung ausgesetzt wurde.
    Ich habe Angst. Ich fühle mich nicht stark genug, um meinem Vater und meiner Großmutter entgegenzutreten.
    Aber hier sind meine kleinen Geschwister und meine Mutter braucht meine Hilfe.
    Mein Elternhaus begrüßt mich mit Grabeskälte und heruntergelassenen Rollläden. Die Heizung ist abgedreht, es ist dunkel, der vertraute Geruch einer künstlichen Sommerbrise, Ingrids liebsten Spülmittels, kriecht mir in die Nase. Es fühlt sich an, als würde ich ein Haus betreten, in dem längst niemand mehr wohnt. Ich merke, dass Ksü neben mir ihre Schultern hochzieht und meine Hand fester umklammert. Auch sie wäre am liebsten draußen geblieben, aber ich weiß, dass sie mich nicht im Stich lassen wird.
    »Hallo!«, ruft der Polizist laut. Seine fröhlichen Töne klingen falsch in diesem Haus. »Herr Doktor Rettemi, schauen Sie mal, wen ich mitgebracht habe!« Ein Echo fängt seine Stimme auf und bringt sie wieder zurück. Mir läuft ein Schauer über den Rücken.
    »Was ist hier los?« Ich werfe Ksü einen Blick zu, sie schüttelt ratlos den Kopf.
    Als ich Kassie am anderen Ende des Flurs auftauchen sehe, vor dem Schlafzimmer meines Vaters, erkenne ich sie kaum wieder. Sie sieht älter aus, läuft mit lautlosen Schritten, ihr Gesicht so ernst. Sie sieht mich zögernd an, als wollte sie ihren Augen nicht trauen. Dann rennt sie auf mich zu, bleibt in einigem Abstand noch mal abrupt stehen und schaut wieder. Schließlich macht sie einen Schritt auf mich zu, streckt die Hand nach mir aus und berührt mich vorsichtig. Ich gehe vor ihr in die Hocke, sie fällt mir endlich um den Hals. Ich habe schon vergessen, wie schmal ihre Schultern sind.
    »Kassie, was ist los? Ich bin immer noch ich, sehe bloß etwas anders aus. Ich bin euretwegen zurückgekommen, ich lasse euch nicht mehr allein. Wo ist Jaro?«
    Kassie winkt über meine Schulter hinweg Ksü zu. Den Polizisten ignoriert sie komplett.
    »Ist mit Jaro alles in Ordnung?«, frage ich beunruhigt.
    »Mit Jaro, ja«, sagt Ksü. »Aber Papa ist total krank. Weil Mama sagt, wir müssen jetzt zu ihr kommen.«
    Ich folge Kassie ins Schlafzimmer meines Vaters, hinter mir Ksü, dann, in einiger Entfernung, der Polizist, der mich offenbar persönlich übergeben will, am besten gegen Quittung. Ich finde alles so seltsam, dass ich mich gar nicht mehr um ihn kümmere. Ich betrete Papas Schlafzimmer, einen Raum mit halb heruntergelassenen Rollläden, in dem es mich noch mehr fröstelt.
    Erstaunlicherweise ist mein Vater am helllichten Tag nicht bei der Arbeit, er liegt im Bett und sein Gesicht ähnelt ein bisschen dem von Ivan vorhin auf dem Sofa. Nur dass Papas Gesichtszüge noch stärker eingefallen sind, er ist bis zum Kinn zugedeckt, ich sehe ihn an, kann meinen Augen kaum trauen.
    »Papa, was ist passiert?« Ich vergesse sofort, wie wütend ich auf ihn bin.
    Ksü atmet laut aus und der Polizist hüstelt verlegen.
    An Papas Bettrand sitzt Ingrid mit einer Tasse in den Händen. Ich registriere automatisch, dass deren Inhalt nicht viel anders riecht als der HYDRAGON-Duftstein für die Kloschüssel. Reto steht daneben. Mein Vater liegt auf der Bettseite, auf der er schon geschlafen hat, als er dieses Bett noch mit unserer Mutter geteilt hat. Auf der anderen schläft jetzt Kassie, wie ich an ihrem geblümten kleinen Kissen erkenne.
    Jaro sitzt ebenfalls da, mit hochgezogenen Beinen. Als er mich sieht, zeigt sein Gesicht den gleichen staunenden Ausdruck wie das seiner Zwillingsschwester. Ich frage mich, ob ich in ihrer Vorstellung überhaupt richtig weg gewesen bin. Ob meine Mutter es geschafft hat, ihnen auf einem nur ihr vertrauten Wege meine Nähe zu vermitteln. Ob sie aus jeder Entfernung mit den Seelen meiner Geschwister flüstern kann, weil sie im Gegensatz zu mir noch Kinder sind und daher keine Zweifel kennen.
    »Was hast du
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