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Spiegelkind (German Edition)

Spiegelkind (German Edition)

Titel: Spiegelkind (German Edition)
Autoren: Alina Bronsky
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mache, was Menschen dazu bringt, den Bezug zur Realität zu verlieren? Was sie so süchtig macht, dass sie dafür alles aufs Spiel setzen?«
    Jeder Muskel bei mir ist angespannt, aber ich halte den Mund. Ich darf bei ihnen sein, aber nicht stören, wenn Ksü sich erinnert, wie sie ihre Eltern verloren hat.
    Vielleicht hätte Ksü lieber auf der anderen Seite des Quadrums bleiben sollen. Dort war sie fröhlich und stark. Jetzt schluchzt sie und zittert. Ich frage mich, ob das gut ist.
    Wenn Ivan mir damals in seiner Küche von Menschen erzählte, die ihr Leben dafür riskierten, die Quadren meiner Mutter zu retten, dann sprach er aus Erfahrung. Er meinte seine Eltern.
    Ich denke, es war einfacher für Ksü, als sie sich noch nicht erinnern konnte – daran, wie eine Explosion vor drei Jahren ihr Haus und ihre Familie zerstört, ihren Körper zerfetzt, ihre Erinnerungen ausgelöscht hat.
    Wenn sie das alles vergessen hat, kann sie wenigstens nichts vermissen, denke ich.
    »Ivan hat mir vieles darüber erzählt.« Ksü schaut an mir vorbei. »Es klang wie ein Schauermärchen. Er wollte, dass ich meine eigene Geschichte kenne, aber es löste nichts in mir aus.«
    Ich spüre das schlechte Gewissen, das nach mir greift. Ich hätte sie von den Quadren meiner Mutter fernhalten müssen. Die Angst der Normalen vor dieser Kunst hat Gründe, die nicht von der Hand zu weisen sind.
    Ich brauche eine Weile, um zu begreifen. Ksüs Eltern hatten sich der Kunst und der Verteidigung von Pheen verschrieben. Sie spürten Quadren auf. Sie waren Wissenschaftler, sie deklarierten meine Mutter und ihre Rechte zu einem wichtigen Forschungsgegenstand, sie legten sich mit Sonderbrigaden an und verklagten sie. Erfolglos. Sie vermittelten zwischen meiner Mutter und Sammlern, die bereit waren, ein Vermögen dafür zu zahlen. Laura machte sich nichts aus Geld, ein Fehler, denke ich. Sie verschenkte viele Quadren, auch das mit der knienden Kassie auf der Fensterbank. Ein Quadrum, das sie Jahre vor Kassies Geburt gemalt hatte.
    Ksüs Eltern waren Freaks und sie standen unter Beobachtung. Irgendwann galten sie als zu gefährlich.
    Ich hatte mich einmal gefragt, ob meine Mutter jemals Freunde gehabt hat. Jetzt weiß ich, dass es mindestens zwei gewesen sind. Sie sind beide tot.
    Es wurde nie offiziell geklärt, warum eines Nachts ein Flügel von Ksüs Haus in die Luft flog. Die Explosion hat zwei Stockwerke zerstört. Im oberen hatten Ksü und ihre Eltern geschlafen, darunter war ein Lager mit den Quadren meiner Mutter.
    Wie überlebt man das? Wahrscheinlich steht die Frage in mein Gesicht geschrieben.
    »Weil ich … jetzt das hier hab.« Ksü streicht über den Kopf ihrer Schlange.
    »Die Tätowierung?«
    »Es ist keine Tätowierung.« Meine Mutter ist blass. »Eine Phee kann, wenn ein Mensch im Sterben liegt, einen freien Inspiro herbeirufen und ihm den Verletzten anvertrauen. Wenn der Inspiro sich für den Kranken entscheidet, setzt er die Heilung in Gang. Und lässt ihn nie mehr im Stich … meistens zumindest.«
    »Und geht der Inspiro dann wieder weg?«, frage ich.
    »Nein. Wenn er wieder geht, ist alles vorbei.«
    »Und dein Inspiro?«, frage ich atemlos. »Ist noch in dir?«
    »Sonst stünde ich jetzt nicht hier.« Ksü lächelt.
    Und ich begreife: Alles hat seinen Preis. Wenn man auf Teile seiner Erinnerung verzichtet, dann spart man sich einigen Schmerz. Wenn man weiterleben will, dann muss man unter Umständen völlig neue Maßstäbe akzeptieren für das, was man Leben nennt. Ich darf mir nicht anmerken lassen, dass mich die Vorstellung anekelt.
    Ich denke an Ivan. Jetzt wird mir vieles klar. Die Freundschaft zu meiner Mutter hat seine Eltern umgebracht und seine Schwester beinah. Er selber hat nur überlebt, weil er in dieser Nacht nicht zu Hause gewesen ist. Wegen der Quadren hat er alles verloren. Und dann stehe ich plötzlich in seiner Küche. Ich wäre an seiner Stelle viel abweisender gewesen. Er war einfach nur vorsichtig. Ich war ein Päckchen Dynamit, das der zerstörten Familie den Rest geben konnte.
    »Du hast also auch nicht gewusst, dass unsere Leben so verbunden sind?«, frage ich Ksü.
    »Nein.« Sie schüttelt den Kopf. »Nur Ivan hat es gewusst. Er hat mir nie gesagt, dass die Explosion wahrscheinlich ein Attentat war. Er hielt sich mir gegenüber an die offizielle Version. Aber ich habe eins und eins selber zusammengezählt. Meine Erinnerung war beschädigt, aber nicht mein Verstand.« Sie lächelt kurz.
    »Aber wie lebt
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