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Spiegelkind (German Edition)

Spiegelkind (German Edition)

Titel: Spiegelkind (German Edition)
Autoren: Alina Bronsky
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tiefen Atemzug weiß ich, dass ich einen Fehler mache. Ich kenne mich nicht aus. Ich entferne mich immer weiter von dem Haus, in dem meine Geschwister und meine Freunde sind. Immer tiefer in den dunklen Wald. Irgendein Tier ruft in der Entfernung. Mir sagt der Klang nichts, ich kenne mich mit Tieren nicht aus.
    Es dauert keine fünf Minuten und ich weiß nicht mehr, woher ich gekommen bin. Ich traue mich nicht zu schreien, weil ich Angst vor der eigenen Stimme habe. Ich laufe einfach weiter, durchs Gestrüpp, Dornen zerren an meinen Kleidern, zerkratzen meine Beine.
    Eine Lichtung. Ein Haus, kleiner als das, in dem wir jetzt leben. Es ist alt, weiß und schief. Auf der Veranda liegt eine Babyrassel.
    Ich erkenne das Haus wieder. Es ist das von Jaros Quadrum. Die Tür ist angelehnt. Drinnen herrscht Stille, die plötzlich von einem leisen Wimmern unterbrochen wird. Obwohl etwas in mir flüstert, dass ich nicht reingehen soll, ist der Drang stärker.
    Ich mache die Tür auf.
    Der Raum ist klein und stickig warm. Ein Kochtopf brodelt auf einem uralten Herd. Flammen leuchten durch die Ritze im Ofentürchen.
    Ich muss ruhig sein. Ich darf das Kind nicht erschrecken, das auf einer Bank sitzt. Es ist noch keine zwei Jahre alt, hat verwuscheltes Haar und dreckige Füße. Es trägt eine breite Latzhose, der Oberkörper ist nackt bis auf den dicken grauen Verband, der sich um seine Brust schlingt. Das Kind scheint gerade aufgewacht zu sein, es weint, aber als ich reinkomme, hält es kurz inne und sieht mich voller Hoffnung an.
    Und obwohl ich selber große Angst habe, spüre ich zum ersten Mal in meinem Leben, dass es einen Schmerz gibt, der größer und wichtiger ist als meiner. Ich weiß selber nicht, wie es passiert, dass ich plötzlich auf der Bank sitze, das Kind auf meinem Schoß, ich drücke es an mich, fahre mit der Hand über die Verbände.
    »Was ist denn mit dir passiert, mein Süßes?«, frage ich.
    »Aua«, wimmert das Kind, es drückt seinen Kopf gegen meine Schulter.
    »Tut es weh? Und wo ist deine Mama?«
    »Mama«, sagt das Kind, zeigt den Hauch eines Lächelns und nickt eifrig. Zeigt mit dem Finger auf die Tür. »Mama!«
    »Mama kommt gleich?«
    Es nickt wieder, die Tränen laufen über die schmutzigen Bäckchen. Dann wird es kurz still und lauscht. »Mama glei«, spricht es mir nach.
    Ich nehme das Kind vorsichtig hoch, der kleine Körper ist schwer und die Haut feucht vor Schweiß, und setze es auf die Bank, werfe die Decke über seine Schultern, obwohl es schon ziemlich warm ist. Durch das eine Fenster sehe ich meine Mutter aus dem Wald kommen. Es ist nicht meine Mutter von heute. Sie ist jünger, schmaler, vielleicht sogar etwas kleiner. Sie ist mit Körben beladen und sie eilt auf das Haus zu.
    Ich verstehe, dass ich wieder in etwas getappt bin, was mich nichts angeht. Ich bin überhaupt nicht bereit, meiner Mutter zu begegnen, die gerade mal so alt zu sein scheint wie ich und ein schmutziges weinendes Kind versorgen muss.
    Ich springe aus dem anderen Fenster. Diesmal weiß ich, dass ich in Jaros Zimmer landen werde.
    »Mama!«, gurrt das kleine Kind hinter meinem Rücken.
    Ich höre das Kind noch, als ich auf den Teppich falle. Und als ich mich aufgerichtet habe, taste ich unter allerlei Verrenkungen automatisch nach den beiden symmetrischen Narben, die ich neben meinen Schulterblättern habe. Sie sind noch da. Ich schlinge die Arme um mich und kratze mich blutig.
    Ich zittere am ganzen Körper, als ich Jaros Zimmer verlasse, einen freundlichen, hellen Raum mit gelben Vorhängen, einer blauen, mit Wolken bemalten Decke, mit den Autos und Plüschtieren, die ordentlich in den Regalen aufgereiht stehen. Der mit einer Straßenkarte verzierte Teppich ist staubfrei. Hier hat jemand aufgeräumt und es wird sofort klar, der Junge, der hier mal gelebt hat, hat dieses Zimmer schon eine Weile nicht mehr betreten. Wie viel Zeit ist vergangen? Lebt mein Vater überhaupt noch?
    Mein Elternhaus ist noch so still, wie ich es zurückgelassen habe. Das beruhigt mich ein wenig. Ich hatte befürchtet, dass es von Menschen in Schwarz belagert wird, die auf meine Mutter warten. Dass sie in eine Falle läuft.
    Wenn ich meine Füße auf den Fliesen bewege, hallt das Geräusch durch das Haus. Ich habe eine Gänsehaut.
    Ich gehe den Flur entlang, die Treppe runter, an der Küche vorbei. Das Haus scheint verlassen. Langsam und leise erreiche ich das Schlafzimmer meines Vaters.
    Die Tür ist angelehnt. Ich lege die Hand auf die
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