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Spiegelkind (German Edition)

Spiegelkind (German Edition)

Titel: Spiegelkind (German Edition)
Autoren: Alina Bronsky
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befassen. Dieser Stoff ist für die Schule nicht geeignet.«
    »Ich finde, jeder Stoff, der im Leben vorkommt, ist für die Schule geeignet«, sagte ich. Ich versuchte, genauso hochnäsig zu klingen wie sie. Früher hätte ich mich das nicht getraut, aber heute war ich bereits vorgewärmt durch den Streit mit meinem Vater. Ich kopierte Philomenas Gesichtsausdruck, eine Augenbraue angehoben, der Rest ohne Regung.
    »Du irrst dich«, sagte Philomena gleichmäßig und sah aus dem Fenster. »Wir sind Lyzeisten. Wir sind jung und lernen noch. Mit Pheen sollen sich Experten befassen, die dafür ausgebildet sind.«
    »Was?« Ich verlor die Kontrolle über meine mühsam arrangierten Gesichtszüge.
    »Experten, die ausgebildet sind«, wiederholte sie ungeduldig. »Fachleute, die Maßnahmen ergreifen können, um sich und andere zu schützen.«
    »Wovor schützen?« Jetzt stand ich komplett auf dem Schlauch.
    »Na, wovor wohl?« Philomena schüttelte den Kopf. »Vor Pheen. Oder wonach hast du mich gerade gefragt?«
    Das Gespräch entwickelte sich völlig anders als vermutet. Ich dachte, dass ich gerade über ausgestorbene Märchenwesen redete, die es nur noch in Form von Schimpfwörtern in die Zeit der Normalität geschafft hatten. Aber Philomena redete offenbar über gefährliche Tiere oder ansteckende Krankheiten. Oder über sehr gefährliche Tiere, die sehr ansteckende Krankheiten verbreiteten.
    »Und was ist mit den Glitzerflügeln?«, fragte ich in einem hilflosen Versuch, Philomena wieder auf den Boden der Tatsachen zurückzubringen.
    »Glitzerflügel?« Philomena entblößte ihre Zahnspange, was bei ihr als Lächeln verstanden werden durfte. »Das ist doch ein altes Klischee aus den Büchern der vornormalen Zeit. Pheen sind nicht schön, sie sind schlampig, schmutzig, ungekämmt.«
    »Woher weißt du das alles?«, fragte ich.
    »Ich verfolge Info-Medien und lese empfohlene Sachbücher für unsere Altersgruppe«, sagte Philomena gleichmütig.
    »Aha. Und da steht das alles so drin?«
    »Du bist so schlecht informiert.« Jetzt schwang eine Spur Verachtung in Philomenas Stimme mit. »Lass dir die Wissen-ab-15-Reihe zum Geburtstag schenken. Oder besser die Wissen-ab-3, deine Defizite scheinen zu groß.«
    Ich war so verwirrt, dass mir darauf keine Antwort einfiel.
    Die schwarzen Schulterpolster, Röcke und Hosen der Lyzeisten füllten den Pausenhof. Wir stellten uns in gleich lange Reihen, jeder an seinen Platz. Am Anfang des Jahres, wenn die neuen Schüler aufgenommen wurden, bekamen wir ihn zugewiesen. Es gab, wie bei allem, bessere und schlechtere Plätze. Als Glückspilz galt, wer am Rand stehen durfte. Es regnete, aber wir waren zu dicht Schulter an Schulter aufgereiht, um noch einen Schirm hochhalten zu können. Die Tropfen glitten über unsere Gesichter, blieben an den Nasenspitzen hängen.
    Der Schulleiter stand auf einem kleinen überdachten Podest. Er trug einen langen Mantel. An seinem Kragen war ein winziges Mikrofon befestigt und seine Stimme dröhnte über den Platz. Er ließ es sich nicht nehmen, uns das Schulbekenntnis jeden Morgen vorzusprechen. Ein dumpfer vielstimmiger Chor fing die Enden seiner Sätze auf, zerkaute sie und reichte sie ihm kaum wiedererkennbar zurück.
    »Wir Lyzeisten!«
    »… Lyzeisten …«
    »Schwören im Beisein unserer Mitschüler!«
    »… unserer Mitschüler …«
    »Hart zu arbeiten im Namen der Normalität!«
    »… malität …«
    Die Schüler um mich herum gähnten, nur der Regen hielt uns aufrecht. Alle sahen so aus, als schliefen sie noch, auf den Wangen die Abdrücke der Kissen, die Hände in der Luft, als suchten sie nach der verrutschten warmen Daunendecke. Vom Schulgeld, das man hier jährlich zahlen musste, hätte man in der gleichen Zeit eine dreiköpfige Familie durchfüttern können. Aber man sah uns nicht an, dass wir Kinder wohlhabender Eltern waren: Die Uniformen waren alle gleich, Schmuck war verboten, sämtliche elektronischen Geräte wurden von der Schule gestellt, was auch das gleiche Betriebssystem garantierte und eine einheitliche Virenabwehr.
    Als der Morgenruf beendet war, hörte ich das Wort schon wieder. Vielleicht achtete ich auch einfach genauer darauf. Die Menge löste sich auf, die Reihen vermischten sich zu einem unförmigen Etwas, das sich langsam in Richtung der Schulgebäude verteilte. Auf dem Asphalt hatten sich Pfützen gebildet, ein Mädchen rutschte aus, ein Seniorschüler, der hinter ihr lief, stolperte und fiel beinah hin. Und dann sagte
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