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Spiegelkind (German Edition)

Spiegelkind (German Edition)

Titel: Spiegelkind (German Edition)
Autoren: Alina Bronsky
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vielleicht eine Phee ihre schmutzigen Krallen im Spiel gehabt. Der Beitrag meines Vaters war nur ein angstvolles »Psst!« gewesen. Mama hatte mit den Augen gefunkelt und eine Tasse gegen die Wand geschmissen. In der Tasse war Kaffee gewesen, ein Malermeister hatte die Raufasertapete danach neu streichen müssen.
    Eine Phee. Eines der schlimmsten Schimpfwörter in der Gesellschaft der totalen Normalität. Etwas, womit man seine Kinder erschrecken konnte: »Räum sofort dein Zimmer auf und löffel die Zucchinisuppe aus. Sonst kommt heute Nacht eine Phee und holt dich.«
    »Ich muss dringend zum Friseur, ich sehe schon aus wie eine Phee« – das sagten manchmal Mädchen, die nicht so gut erzogen waren wie ich.
    Mein Vater hatte einen blöden Scherz gemacht. Einen sehr blöden Scherz. Es war zwar nicht gerade seine Art, aber offenbar war ich nicht die Einzige, die sich nach den letzten vierundzwanzig Stunden nicht wiedererkannte.
    So absurd die Vorstellung auch war – der Gedanke an Pheen lenkte mich ab. Das tat gut. Endlich konnte sich mein Gehirn mit etwas anderem beschäftigen als mit der Vorstellung, meine Mutter würde gefesselt in einem feuchten Keller eines Freaks verhungern.
    Ich überlegte, was ich schon mal über Pheen gehört hatte. Es war ein Schimpfwort, klar, aber jedes Wort hatte einen Hintergrund. Kassie hatte sich einmal zum Kostümfest als Phee verkleiden wollen. Sie hatte ein Bild in einem Buch gesehen, eine hübsche und zarte Gestalt mit durchsichtigen Flügeln und rosafarbenen Tüllröcken, das engelsgleiche Haar ganz ähnlich wie ihres. Es war ein altes Buch, das meiner Mutter gehörte. Meiner Schwester hatte das Bild gefallen und sie hatte genau solch ein Kostüm haben wollen. Und obwohl sie sonst immer alles bekam, was sie wollte – diesmal hatte sie sich geschnitten.
    Jetzt erinnerte ich mich auch daran, wie seltsam mein Vater sich damals verhalten hatte. Er hatte getobt und es ihr verboten. Seiner süßen kleinen Kassie etwas verboten – so etwas passierte seltener, als es im Sommer schneite. Kassie hatte lange geheult und war schließlich aus Protest als Putzfrau verkleidet zum Kostümfest gegangen, mit Eimer, Besen, Gummihandschuhen. HYDRAGON stellte auch Gummihandschuhe her, daher hatten wir Unmengen von ihnen zu Hause, in allen Größen und Farben.
    Das war so ziemlich das Spannendste, was mir zum Thema Pheen einfiel. Bilderbücher. Fantasyromane. Und dass Kassie ihretwegen mit Gummihandschuhen zum Kostümfest gegangen war.
    Und jetzt behauptete mein Vater, meine Mutter sei eine Phee. Und es klang nicht so, als wäre es einfach nur eine der Beleidigungen gewesen, wie sie in der letzten Zeit zwischen meinen Eltern üblich geworden waren. Es klang viel zu bedeutungsvoll.
    Und es war der größte anzunehmende Schwachsinn. Ich blickte nicht mehr durch. Sollte ich anfangen, mir wieder mehr Sorgen um meinen Vater zu machen?
    Ich löste die Stirn von der Scheibe, sie hatte einen ovalen Fleck auf dem Glas hinterlassen, der sich schnell verkleinerte. Ich schaute mich im Bus um. Er wurde von der Stadtverwaltung ausschließlich für die Schüler des Lyzeums bereitgestellt. Auf jedem Sitz hockte eine Krähe. Aber ich selber sah in meiner schwarzen Schuluniform auch nicht gerade wie ein fröhlicher Wellensittich aus. Am anderen Ende des Busses entdeckte ich Philomena, mit der ich einige Lerneinheiten gemeinsam hatte. Der Platz neben ihr war noch frei. Ich stand auf. In diesem Moment bremste der Bus, um ein paar Lyzeisten an der Haltestelle einzusammeln, und ich rutschte durch den ganzen Innenraum und hielt mich an Philomenas Sitz fest.
    »Hallo«, sagte ich und lächelte.
    »Hallo«, sagte sie, erst etwas hochnäsig, dann lächelte sie aber doch noch zurück: Wahrscheinlich fiel ihr gerade ein, dass sie schon mindestens dreimal von mir abgeschrieben hatte.
    »Ist hier noch frei?«, fragte ich.
    Sie zögerte, dann sagte sie: »Aber ja.«
    Ich ließ mich davon nicht abschrecken, ich war selber so. Wenn man nicht eng befreundet war, verhielt man sich am Lyzeum so, als würde man sich zum ersten Mal sehen. Und was »eng befreundet« hieß, das wusste ich eigentlich selber nicht so genau. Ich setzte mich hin und nahm meine Schultasche auf den Schoß.
    »Kann ich dich was fragen?«
    »Aber ja.« Philomenas Zahnspange glitzerte kurz auf.
    »Wann machen wir endlich mal was über Pheen? Im Unterricht?«
    Philomena sah mich an.
    »Ich hoffe, niemals. Wir sind ja nicht hier, um uns mit solchem Dreck zu
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