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Spiegelkind (German Edition)

Spiegelkind (German Edition)

Titel: Spiegelkind (German Edition)
Autoren: Alina Bronsky
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mehr auf seinen Schoß zu passen.
    Ich holte tief Luft. »Ich werde jedem alles erzählen, was ich will«, sagte ich langsam und deutlich, obwohl ich mir eigentlich vorgenommen hatte, im Sinne der Konfliktvermeidung meinen Mund zu halten. »Und du kannst mir das nicht verbieten.«
    Papas unteres rechtes Augenlid begann zu zucken.
    »Kein Wort zu jemandem, Juli! Ich möchte nicht, dass die ganze Schule mit den Fingern auf dich zeigt!«
    »Mit den Fingern? Auf mich? Seit wann muss man sich für ein Unglück schämen, das einem widerfahren ist?«
    »Du verstehst einfach gar nichts!«, stöhnte mein Vater.
    »Dann erklär es mir!«
    In diesem Moment quietschte die Schlafzimmertür und Kassies flinke Füße flogen über die Marmorfliesen. Papa hatte ihre Schritte wahrscheinlich noch nicht gehört, jedenfalls beugte er sich zu mir runter und sagte mit einer Stimme, die mich zusammenzucken ließ:
    »Jetzt reiß dich doch mal zusammen, Juliane. Ich erkenne dich ja nicht wieder. Du weißt genau, dass deine Mutter …« Er hielt kurz inne, biss sich auf die Unterlippe, »dass sie eine … diese …«
    »Was?« Meine Angst war plötzlich wieder da, heftiger und größer als am Abend zuvor. »Was ist sie? Krank?«
    »Schlimmer, Juli. Viel schlimmer. Stell dich doch nicht so dumm. Sie ist …«
    »Was ist sie?« Ich brüllte fast.
    Mein Vater schloss die Augen. Erst dann ging es ihm, wenn auch sehr mühsam, über die Lippen.
    »Deine Mutter, Juli, ist eine Phee.«
    Ich renne los.
Schon mit dem ersten tiefen Atemzug weiß ich, dass ich einen Fehler mache. Ich kenne mich nicht aus. Ich entferne mich immer weiter von dem Haus, in dem meine Geschwister und meine Freunde sind. Immer tiefer in den dunklen Wald.

Unter Krähen
    Ich konnte meinem Vater nichts mehr entgegnen, denn Kassie stürmte in die Küche und kletterte routiniert auf seinen Schoß. Sie hatte verwuschelte blonde Locken und sah in ihrem langen Nachthemd wie ein verschlafener Engel aus. Mein Vater küsste sie ausgiebig, dann schmierte er ihr ein Brot und fing an, sie zu füttern. Ich konnte mich nicht erinnern, ob er es bei mir früher auch so gemacht hatte. Wahrscheinlich schon. Er hatte mir jedenfalls lange den Schulranzen getragen, die Klamotten herausgesucht und manchmal sogar großzügig die Lösungen der Hausaufgaben diktiert, obwohl ich sie auch von allein gewusst hätte. Der Satz »Ich mach das für dich« gehörte eben zu meinem Vater wie sein gelegentliches Schielen.
    »Sie kann allein essen!«, sagte ich angewidert. »Sie ist doch kein Baby mehr. Bei Mama macht sie alles selber.«
    »Lass sie«, sagte mein Vater zärtlich. »Sie hat einen Schock nach diesem schrecklichen Vorfall.«
    Kassie streckte mir von seinem Schoß aus die Zunge raus. »Selber Baby«, sagte sie.
    Mein Vater seufzte und strich ihr eine Locke aus dem Gesicht.
    »Juli, du bist zu spät dran«, sagte er zu mir und klopfte mit dem Zeigefinger auf seine Armbanduhr.
    Der Unterricht am Lyzeum begann um 7:30 Uhr, früher als an jeder anderen Schule der Stadt. Auch das machte uns zur künftigen Elite – wir waren alle chronisch unausgeschlafen und schlecht drauf.
    »Vergiss nicht, den Kleinen Schulbrote zu machen«, sagte ich.
    Ich selber musste nichts in die Schule mitnehmen. Wir aßen in der Kantine und überall standen Automaten herum, aus denen wir in den Pausen Äpfel, abgepackte Ananasstücke und Vitaminriegel ziehen konnten.
    Im Schulbus kühlte ich meine heiße Stirn an der Fensterscheibe und dachte daran, was mein Vater gesagt hatte. An diesen seltsamen Satz, dass ich nicht so dumm sein sollte und dass meine Mutter eine Phee war. Mein Vater hatte es sehr dramatisch geflüstert.
    Begann er gerade, seinen Verstand zu verlieren? Ich war offenbar nicht die Einzige, der der Stress des Vortags so zusetzte.
    Ich hatte schon einmal erlebt, wie ein Normaler wahnsinnig wurde. Es gehörte zu den gruseligsten Erinnerungen meines Lebens. Ich war damals fünf oder sechs gewesen, die Zwillinge waren noch nicht auf der Welt. Ein Nachbar in unserer Straße, ein Mann, der bis dahin nie aufgefallen war, lief plötzlich singend und unrasiert über die Straßen. Dann war ein schwarzer Wagen gekommen und hatte ihn abgeholt. Ich sah ihn nie wieder. Dafür hatte ich meine Großeltern mit Papa flüstern gehört. Meine Großmutter hatte gesagt, es hätte nicht so weit mit ihm kommen müssen, heute könne man viel dagegen tun, sie nehme doch auch immer ihre Medikamente. Mein Großvater hatte gesagt, da hätte
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