Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Spiegelkind (German Edition)

Spiegelkind (German Edition)

Titel: Spiegelkind (German Edition)
Autoren: Alina Bronsky
Vom Netzwerk:
wollte ich noch weniger. Ich war schon immer Juliane Rettemi gewesen, Einserschülerin der inzwischen zehnten Klasse des Lyzeums, das zweitlängste Mädchen des Jahrgangs, das wegen des pausbäckigen Gesichts trotzdem gern für jünger gehalten wurde und in Sachen Geburtstagseinladungen nur ganz knapp unterm Durchschnitt lag.
    Ich trug eine absolut normale Frisur (mittelbraun, schulterlang, leicht gestuft), hatte die gleichen Impfungen wie alle anderen Lyzeisten meines Alters, meine Zähne waren kariesfrei und meine Schultasche stammte vom einem beliebten Lederartikelhersteller. Ich konnte mich selbst nur an der Größe aus der Menge meiner Mitschülerinnen herausfiltern, wenn wir im Sport mal alle vor dem großen Spiegel aufgereiht standen.
    Das Einzige, was mich von Gleichaltrigen unterschied, waren die beiden symmetrischen Narben an den Schulterblättern, jede etwa drei Zentimeter lang. Ich war als ganz kleines Kind gestürzt und hatte mich verletzt. Erinnern konnte ich mich nicht mehr daran. Manchmal juckten die Narben. Für den Schwimmunterricht zog ich einen Badeanzug mit extra breiten Trägern an, damit niemand etwas sehen konnte. Narben waren etwas für Freaks, die fanden so etwas schick. Mein Vater hatte mal erzählt, dass Freaks sich gern selbst mit Messern und Brandeisen verstümmelten, um noch mehr aufzufallen. Kein Wunder, dass sie ständig auf der Suche nach neuem Rauschzeug waren, um all das verkraften zu können. Ich mochte nicht, wenn mein Vater über diese Sekte redete, mir wurde übel davon.
    Seit meine Eltern endlich beschlossen hatten, nicht mehr unter einem Dach zu leben, sondern abwechselnd für jeweils eine Woche in unser Haus einzuziehen, war mein Leben etwas entspannter geworden. In den Wochen meiner Mutter hatte sich eigentlich nicht viel verändert, nur der Streit und das geladene Schweigen fielen weg. In den Wochen meines Vaters wurde ich am Anfang von Mitleid zerrissen, aber trotzdem war das noch besser auszuhalten als die Stimmung all der Jahre, in den meine Eltern versucht hatten, uns Kindern zuliebe zusammenzubleiben.
    Meinem Bruder Jaro und meiner Schwester Kassie ging es nach der Trennung auch besser, zumindest vermutete ich das. Sie waren Zwillinge, sieben Jahre alt und seit dem Sommer in der ersten Klasse. Sie gingen in die Grundschule. Mein Lyzeum begann wie alle weiterführenden Schulen ab der fünften Klasse.
    Die Zwillinge durften im Gegensatz zu mir noch ihre gewöhnliche Kleidung tragen. Ich dagegen hatte zwei Schuluniformen im Schrank hängen, eine schwarze für den Alltag und eine festliche, die aus einem dunkelblau–rot karierten Rock und Jackett bestand. Dazu einige weiße Blusen. Die Röcke gingen knapp bis zum Knie und in der schwarzen Uniform sah ich aus wie eine Krähe. Es gab kaum ein Mädchen, dem diese Kleidung stand, aber unser Schulleiter sagte bei jedem zweiten Morgenruf, dass wir stolz auf unsere Uniformen sein sollten – daran könne man jederzeit erkennen, welch elitäre Bildungseinrichtung wir besuchten und dass die Zukunft der Normalität in unseren Händen lag.
    Die Zukunft interessierte mich gerade nicht über die Frage hinaus, wann ich meine Mutter wiedersehen würde.
    Kurz bevor mein Wecker klingelte, war ich in den ersten unruhigen Halbschlaf gefallen. Mit dem Scheppern der Uhr schreckte ich wieder hoch, im Morgengrauen, mit pochenden Schläfen und Gedanken zäh wie angetrocknetes Kaugummi. Obwohl ich müde war, sprang ich sofort aus dem Bett. Die Nacht war vorbei und das machte mir Hoffnung. Ich wollte fest daran glauben, dass mit dem vergangenen Tag und der schlaflosen Nacht das Schlimmste überstanden war. Jetzt konnte es nur besser werden.
    Ich beugte mich über das Geländer, sah aus dem ersten Stock, dass unten in der Küche ein Licht brannte und jemand mit Tellern und Besteck klapperte. Ich fiel fast die Treppe runter, schaffte es tatsächlich, auf den Antirutsch-Matten, die jede Treppenstufe absicherten, auszurutschen, eilte durch den Torbogen zu unserer Küche und entdeckte meinen Vater im Bademantel.
    Er gähnte und schnitt Brot in Scheiben, sein Gesicht war grau und zerfurcht. Auch für ihn war es zu früh, er hatte morgens immer schlechte Laune.
    »Hast du was Neues gehört?«, fragte ich.
    Er sah auf. »Kannst du nicht wenigstens erst mal Guten Morgen sagen?«
    »Guten Morgen«, sagte ich. »Hast du etwas gehört?«
    »Von wem?«
    Er schaute mich an, als wüsste er nicht, wovon ich redete. Er war ein schlechter Schauspieler und ich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher