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Spiegelkind (German Edition)

Spiegelkind (German Edition)

Titel: Spiegelkind (German Edition)
Autoren: Alina Bronsky
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verstecken.
    »Heute Morgen war hier alles noch okay, Mama hat uns Frühstück gemacht, sie war gut drauf und sie wollte den ganzen Tag malen.« Jede Kleinigkeit konnte wichtig sein, in meinem Gehirn ratterte es auf der Suche nach Details, die helfen könnten, das alles zu erklären.
    Sie hörten mir nicht zu. Überhaupt nicht. Sie versammelten sich im Wohnzimmer, wechselten Blicke und was taten sie dann? Ich traute meinen Augen nicht. Sie fingen an aufzuräumen. Sie hoben die Bücher auf und stellten sie ins Regal. Mein Vater verzog das Gesicht, denn er hatte es lieber, wenn die Buchrücken alphabetisch geordnet waren, aber das konnten die Polizisten nicht wissen.
    Einer von ihnen kam mit einem kleinen Handbesen. Es war komisch zu sehen, wie dieser große Mann sich hinhockte, um die verstreute Blumenerde von unseren Fliesen zu kehren. Ein anderer hob die Zeitungen vom Boden auf und stapelte sie auf der Fensterbank. Ein dritter guckte verdattert in Zeros Käfig, als könne er nicht glauben, dass der Käfig tatsächlich leer war. Dann schloss er mit einem bedeutungsvollen Gesichtsausdruck das Türchen.
    Ich schoss ins Wohnzimmer und riss die Käfigtür wieder auf. »Die muss offen bleiben, falls Zero zurückkommt«, sagte ich. Zero war oft unterwegs, meine Mutter machte ihm immer das Fenster auf und er hatte jedes Mal den Weg zurück nach Hause gefunden.
    Mein Vater sah mich kopfschüttelnd an. »Ich hab doch gesagt, du sollst in deinem Zimmer bleiben.«
    »Ich dachte, du hast gesagt, in der Küche.« Was spielte es für eine Rolle, wo ich war, wenn meine Mutter verschwunden war und jemand unser Haus verwüstet hatte?
    »Ich dachte außerdem noch, dass man nach einem Verbrechen keine Spuren vernichten darf?« Ich sagte es leise, aber sie hatten es trotzdem gehört. Es fühlte sich an, als ob es im Zimmer schlagartig kälter geworden wäre. Alle hörten für einen Moment auf, zu fegen und Zeitungen nach Datum zu sortieren, und starrten mich an.
    »Wer spricht denn von einem Verbrechen, Schätzchen?«, fragte einer der Polizisten, ein dicklicher Mann mit rosafarbener Glatze und drei Sternchen auf dem Ärmel.
    Ich versuchte, mich an den Unterricht der Gesetzkunde an meinem Lyzeum zu erinnern. Hilfreicher waren jetzt allerdings die Krimis, die mein Vater manchmal abends im Unterhaltungskanal guckte. Seit ich vierzehn war, durfte ich dabei im Zimmer bleiben.
    »Wenn ein Mensch gewaltsam entführt wird, ist es ein Verbrechen«, sagte ich verunsichert.
    »Wer spricht denn von einer gewaltsamen Entführung, meine Süße?«
    Ich sah von einem Polizisten zum anderen. Ihre Gesichter glänzten. Noch nie hatte mich jemand so angeredet.
    »Ich«, sagte ich. »Ich spreche davon. Jemand hat meine Mutter entführt und bei der Gelegenheit das Zimmer verwüstet. Das ist doch klar wie Kloßbrühe.«
    Die Polizisten sahen sich an und lachten. Es klang gutmütig, aber irgendetwas an diesem Lachen machte mir Angst.
    Der dickliche Mann mit der Glatze kam auf mich zu. Jetzt stand er ganz dicht vor mir, was strategisch nicht geschickt von ihm war. Er war ziemlich klein und ich überragte fast alle meine Mitschüler. Deswegen ging ein Gutteil seiner Überheblichkeit verloren, als er mir die Schulter tätschelte und sehr, sehr gutmütig sagte: »Es gibt keinerlei, wirklich keinerlei Hinweis darauf, dass deine Mami Opfer einer Gewalttat geworden ist, mein Schätzchen.«
    »Aber sie ist offenbar verschwunden. Spurlos. Oder etwa nicht?« Ich versuchte, ruhig und vernünftig zu klingen, was mir nicht gerade leichtfiel.
    Der Mann strahlte und tätschelte mich noch ein bisschen. Meine Schulter juckte. Ich hatte Sorge, dass seine Finger abrutschten und meine Narbe neben dem linken Schulterblatt berührten. Dann hätte ich reflexartig zugeschlagen – an keiner anderen Stelle war ich so empfindlich.
    Das durfte aber auf keinen Fall passieren. Ich hatte mir schon zu viel herausgenommen. Schließlich war ich darauf angewiesen, dass diese Polizisten mit den gleichgültigen Augen aufhörten, mich zu verspotten, und anfingen, meine Mutter zu suchen. Also musste ich mich zusammenreißen und wenigstens höflich sein.
    Auf dem Lyzeum hatten wir ein Nebenfach, das Konfliktvermeidung hieß. Obwohl es freiwillig war, hatte mein Vater darauf bestanden, dass ich es belegte. Der Unterricht bestand hauptsächlich daraus, einfache Zusammenhänge in möglichst gewundenen Sätzen zu formulieren – so lange, bis der Gesprächspartner vergessen hatte, worum es überhaupt
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