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Spiegelkind (German Edition)

Spiegelkind (German Edition)

Titel: Spiegelkind (German Edition)
Autoren: Alina Bronsky
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Auge der winzigen Webcam, das mich neugierig anglotzte. Dann legte ich die Finger an die Tastatur.
    »Deine persönliche Nummer«, verlangte der Computer.
    Na klar. Ich ließ mir meine Nummer durch den Kopf gehen, zerlegte sie in Einzelteile und ersetzte einige Ziffern und Buchstaben durch andere. Atmete ein, tippte sie herunter, atmete wieder aus.
    Das Gerät gab mit einem befriedigten Schmatzen die Suchmaschine für Lyzeisten frei.
    Meine Finger zitterten. Noch vor zwei Tagen hätte ich nichts dabei gefunden, aber jetzt traute ich mich nicht mehr, das Wort einzutippen. Die vier Buchstaben ließen meine Fingerkuppen bleischwer werden. Ich brauchte lange, bis ich damit fertig war.
    Noch bevor ich die Suche starten konnte, wurde der Bildschirm schlagartig schwarz und es leuchtete der Satz auf: »Dir fehlt die persönliche Reife, um mit mir umzugehen. Schäm dich!«
    Ich knirschte mit den Zähnen. Schon wieder »Schäm dich«. Waren wir hier im Kindergarten? Ich loggte mich aus.
    Dann hatte ich die zweite gute Idee des Tages und lief, so schnell und unauffällig ich konnte, an meinen Arbeitsplatz in der Lerngruppe.

Ksü
    Unsere erste Lerneinheit war Chinesisch. Ich setzte mich an meinen Platz und versteckte die Hände unter dem Tisch. Sie zitterten noch immer.
    Der Lernbegleiter für Chinesisch und Mathematik war zugleich unser Tutor. Das hieß, er nannte jeden Schüler beim Vornamen, sprach alle zusammen mit »meine Lieben« an und begann die Lerneinheit gern damit, dass er jeden aufforderte, vom gestrigen Tag zu berichten.
    Diese Prozedur hatte ich schon an besseren Tagen gehasst. Noch nie war es mir gelungen, meine Mitschüler mit meinen Berichten zu beeindrucken. »Hab gelesen.« Haha. »Mit Mama über Mineralien gequatscht.« Grinsen. »Mit meinen kleinen Geschwistern gespielt.« Kichern.
    Dabei fand ich nicht, dass die anderen Besseres zu berichten hatten. »Habe einen neuen Nachhilfelehrer in Zahlenkunde!« Sensationell. »Habe mein Zimmer nass gewischt!« Wahnsinn. »War bei der Pediküre!« Herzlichen Glückwunsch. Nur dass ich mich im Gegensatz zu den anderen nie traute, meine Reaktion zu zeigen.
    Heute hätte ich endlich mal auftrumpfen können, zum Beispiel so: »Ich kam gestern nach Hause, meine Mutter war weg, dafür war die Polizei da. Das ganze Zimmer war verwüstet. Die Polizei hat mich angelogen und sich auch sonst seltsam verhalten. Mein Vater ist seitdem total daneben. Und außerdem habe ich die ganze Nacht nicht geschlafen.«
    Natürlich hielt ich den Mund, aber allein die Vorstellung tat gut.
    »Meine Lieben«, der Tutor klatschte in die Hände und lief zwischen den Tischen hin und her. »Bitte nehmt eure Näschen von den Bildschirmen, ihr werdet im Leben noch genug Gelegenheit haben, euch die Augen zu verderben. Bevor wir uns in die Grammatik vertiefen, erbitte ich mir ein bisschen von eurer Aufmerksamkeit. Die Gegenwart baut immer auf der Vergangenheit auf und unsere unmittelbarste Vergangenheit ist das Gestern. Ohne Gestern kein Heute, daher möchte ich …«
    »Stimmt nicht!«, sagte eine heisere Stimme.
    Ich sah auf. Und ich war nicht die Einzige. Andere verschlafene Augenpaare lösten sich von der Krawatte des Tutors, auf der bunte Zahnräder rotierten, und von der Betrachtung des Regens, der wie ein Vorhang die Welt da draußen von uns abschirmte.
    Der Tutor stockte. Auch er war überrascht. Normalerweise hörte ihm niemand in seinen Morgenausführungen zu, wenn sie nicht unmittelbar mit dem Stoff zu tun hatten und entsprechend nicht in Tests abgefragt werden konnten. Kommentare, gar Widerspruch waren die reinste Energieverschwendung.
    »Ach ja«, sagte er säuerlich. »Das habe ich ganz vergessen. Wir haben uns vergrößert. Herzlich willkommen, Ksenia.«
    Ich drehte so ruckartig meinen Kopf, dass mir die Halswirbel knackten.
    Es stimmte: Wir waren nicht mehr elf in dieser Gruppe, wir waren zwölf. An einem freien Platz am Fenster saß ein mir bislang gänzlich unbekanntes Wesen. Es hatte einen kahlen Kopf, was unheimlich war, weil keine Haare die Tätowierung verbargen, die sich um den Schädel schlängelte. Das Wesen trug die gleiche Uniform wie alle anderen und doch bestand keinerlei Gefahr, es jemals mit einem anderen Lyzeisten zu verwechseln. Es war ihm gelungen, die schwarzen Kleider aus schickem knitterlosem Normtuch alt und zerschlissen aussehen zu lassen. Die Ärmel des Jacketts waren hochgekrempelt. Das Wesen sah aus wie ein Junge, aber der Name Ksenia hörte sich weiblich an.
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