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Spiegelkind (German Edition)

Spiegelkind (German Edition)

Titel: Spiegelkind (German Edition)
Autoren: Alina Bronsky
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darauf, dass es ihm sowieso gleich auffallen würde. Er ging durch die Reihen und hörte den miauenden Pärchen zu. Nur um uns machte er einen großen Bogen.
    Erst am Ende der Lerneinheit traute er sich in unsere Nähe. Ich atmete schon erleichtert auf – die ganze Zeit hatte ich auf meinem Blatt die Leerräume der einzelnen Zeichen ausgemalt, um nicht einzuschlafen. Er beugte sich zu uns runter und legte jeder von uns eine Hand auf die Schulter, was sich sonst kaum ein Lehrer aus Angst vor einer Anklage wegen sexueller Belästigung erlaubte – so etwas konnte die Karriere ernsthaft gefährden.
    »Gut vorangekommen, meine Damen?«
    »Mmmmh«, brummte ich. Auch in meinem fünften Lyzeumsjahr ging mir das Petzen »Die Neue hat null Ahnung und zieht mich runter!« nicht so leicht von der Zunge.
    »Ich habe null Ahnung und ziehe Juli runter«, meldete Ksü fröhlich.
    Ich starrte sie an. Hatte sie gerade meine Gedanken gelesen?
    »Ich möchte Sie gern in der Sprechstunde besuchen und mir einen Plan zum Nacharbeiten des Lernstoffs abholen«, fügte Ksü hinzu.
    Der Tutor wandte sich ab, um die Schlange auf Ksüs Schädel nicht ansehen zu müssen.
    Ksü wartete freundlich. Sie hatte Anspruch darauf. Ein ganzer Monat stand ihr dafür zu – wenn sie es in der Zeit nicht schaffte, den Stoff nachzuholen, würde sie wieder gehen müssen. Das wusste ich, weil auch ich erst in der sechsten Klasse ins Lyzeum gekommen war, nachdem mein Vater sich gegenüber meiner Mutter durchgesetzt hatte. Seit meiner frühesten Kindheit hatten sich meine Eltern darüber gestritten, ob wir das Juniorland und die Schule (und wenn ja, welche) besuchen oder lieber zu Hause von unserer Mutter unterrichtet werden sollten. Letzteres war illegal und da hatte Mama bei unserem Vater schlechte Karten, egal wie stark ihre Abneigung gegen das normale Schulsystem war. Das Lyzeum war ihre größte Niederlage.
    Ich konnte ihre Abwehrhaltung nicht so richtig nachvollziehen. Ich war stolz gewesen, auf das Lyzeum zu gehen, auch wenn die erste Zeit hart gewesen war. Die anderen hatten mir schon ein Jahr in den Lerngruppen voraus und es hatte gedauert, bis ich mir neue Namen, Gesichter und Wege eingeprägt hatte.
    »Selbstverständlich«, sagte der Tutor schließlich. »Lass dir im Sekretariat einen Termin geben.«
    »Mach ich.« Ksü nickte. Doch dann holte der Tutor zu einem Gegenschlag aus, und zwar in meine Richtung.
    »Hast du schon einen Paten, Ksenia?«
    Ich wusste sofort, wie das ausgehen würde. Wenn ein neuer Schüler aufs Lyzeum kam, dann bekam er einen Paten zugewiesen. Jemanden, der ihn rumführte, die Lernräume und die Kantine zeigte und für dumme Fragen zur Verfügung stand. Nur bei mir hatte man es damals vergessen. Natürlich hatte Ksü noch keinen Paten.
    »Juliane Rettemi ist von diesem Moment an die Patin von Ksenia Okasaki, Probezeit ein Monat, der Rechtsweg ist ausgeschlossen«, verkündete der Tutor. »Ich gratuliere dir zu dieser Aufgabe, Juliane.«
    Die Tatsache, dass Ksü mich von diesem Moment an auf Schritt und Tritt begleitete, machte meine Versuche der letzten Jahre zunichte, mir im Lyzeum eine einigermaßen respektable Position zu erarbeiten.
    In der Schlange in der Kantine hatten zwei Jungen hinter uns darüber diskutiert, seit wann man denn Freaks in die höchsten normalen Schulen reinließ. Sie gaben sich keine Mühe, die Stimme zu senken. Ein anderer fragte Ksü, ob sie ihm Rabatt geben würde. Ksü hatte daraufhin nur arglos gegrinst und ich wäre am liebsten in den Erdboden versunken. Noch jemand hatte »Vogelscheuche« hinter Ksüs Rücken geflüstert und ich hatte sofort gelächelt, um zu zeigen, dass ich derselben Meinung war.
    Und später saßen wir zu zweit an einem großen leeren Tisch und fünf Mitschülerinnen, die ich für so etwas wie gute Bekannte gehalten hatte, winkten mir höchst verhalten vom anderen Ende des Saals zu.
    Aus der Entfernung fiel mir auf, wie ähnlich sie sich sahen: glänzende schwarze Röcke und Jacketts, strahlend weiße Blusenkragen, Lederschultaschen mit wuscheligen Glücksbringern. Die Haare reichten glatt und blond bis zu den Schulterblättern, nur die Haarreife waren mal braun, mal pink.
    Ksü in ihrem übergroßen, zerschlissen aussehenden Anzug wirkte wie ein Straßenköter auf einer Schau reinrassiger Pudel. Und dann war da noch die Schlange auf ihrem Schädel – eigentlich die erste Tätowierung, die ich in meinem Leben überhaupt gesehen hatte. Menschen mit Tätowierungen nannte mein
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