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Sperrzone Fukushima

Sperrzone Fukushima

Titel: Sperrzone Fukushima
Autoren: William T. Vollmann
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japanische Regierung treffe ihre eigenen Vorhersagen – dass man nur eine einzige herausgegeben habe, sei kein Problem, denn, wie ein Beamter namens Seiji Shioya erklärte, »das können wir nicht machen, sie sind zu ungenau«. Der ungenannte Sprecher merkte dann an: »Wenn die Regierung widersprüchliche Zahlen veröffentlicht, könnte das in der Gesellschaft zu Unruhe führen.« 17 Operierten die offiziellen Statistiken deshalb mit unterschiedlichen Maßeinheiten, so dass das Trinkwasser in Koriyama für sicher erklärt wurde, da seine Radioaktivität unter 100 Becquerel liege, während die Zeitung die radioaktive Strahlung in dieser oder jener Stadt in Millisievert pro Stunde angab? Ich begegnete keinem Menschen, der wusste, was diese Zahlen bedeuteten. Wie praktisch! Und so schob ich mir mit meinen Stäbchen das nächste aufgetaute Stückchen Pferdemakrele in den Mund und fragte mich, wie unbedenklich es wohl war.
     
     
BEDÜRFNISSE DES AUGENBLICKS
     
    Falls es Ihnen noch nicht aufgefallen sein sollte, für mich war die Sache mit dem Reaktor die eigentliche Story. So traurig das Erdbeben und der Tsunami auch gewesen sein mochten, der Schaden war angerichtet, die Menschen waren tot und der Besitz vernichtet; nun konnte man sich bis zum nächsten Beben mit dem Wiederaufbau beschäftigen. Aber dieser andere Schrecken, verpacktin Becquerel, Sievert und Millirem, begann gerade erst, und niemand wusste, wie schlimm die Sache stand.
    (Ich hatte Peter Bradford gefragt: »Könnte das hier in den Staaten passieren? Soweit ich weiß, haben wir ein paar Reaktoren des japanischen Typs.«
    »Ich denke, die Wahrscheinlichkeit hängt weniger vom Reaktortyp ab als von der Tatsache, dass wir uns angesichts dessen, was man als Störfall der Stufe 7 bezeichnet hat, ebenso sehr in falscher Sicherheit wiegen wie die Japaner. Ich glaube nicht, dass wir weniger gefährdet sind als die Japaner.«)
    Es mag unpassend sein, im Angesicht von Beben, Tsunami und damit einhergehender Reaktorkatastrophe die Worte Buddhas zu zitieren: »Nichts auf dieser Welt ist von Dauer; alles wandelt sich, ist flüchtig und unberechenbar. Aber die Menschen sind selbstsüchtig und dumm und immer nur mit den Wünschen und dem Leid des Augenblicks beschäftigt. Sie hören nicht auf die weisen Lehren; sie versuchen nicht, sie zu verstehen; sie widmen sich einfach den Bedürfnissen des Augenblicks, der Geldgier und der Lust« 18 – zum Beispiel dem Streben nach den Steuervorteilen für die Anwohner eines Atomreaktors, ganz abgesehen von dem, was der Reaktor alles möglich macht und antreibt. In Tokio wird es im U-Bahn-Waggon ein oder zwei Haltestellen lang dunkel, zweifellos der Stromengpässe wegen. Der Infoschirm an der linken Tür belehrt uns, dass eine Linie wegen »Blackouts« außer Betrieb sei und zwei Hochgeschwindigkeitszüge wegen »Erdbebens« gestrichen wurden.
    Der blasse junge Geschäftsmann gegenüber blickte über seinen weißen Mundschutz auf seinen glänzenden Laptop; die stilisierten gelben Mann- und Fraufiguren leuchteten nebeneinander in ihrem schwarzen Kasten und informierten uns, dass beide Toiletten besetzt seien; und weiter ging unser Flug über Häuser und Gärten. Aus der Perspektive des Buddha ist es kaum von Bedeutung, ob diese ganze Leichtigkeit ihren Ursprung in Uran-Pellets, Solarzellen oder einem Perpetuum mobile hat; es ist sowieso allein unsere Selbstgefälligkeit, die all die hübschen Dächer und Bäume dieses Augenblicks davor schützt, in jene Trümmer zu sinken, in die der nächste Augenblick sie sehr wohl verwandeln kann. Aber wie vielen von uns (von Mönchen abgesehen) gelingt es schon, zu leben und zu hoffen – mit anderen Worten, unseren Augenblicksbedürfnissen zu folgen –, ohne unser unausweichliches Ende außer Acht zu lassen? Gewiss sind wir »besser dran«, wenn wir so tun, als könne der Hochgeschwindigkeitszug nicht entgleisen. Das Risiko ist gering; wir werden wahrscheinlich an etwas anderem sterben. Wenn die Gefahr näher rückt, widerspricht es den Bedürfnissen des Augenblicks, sie zu missachten. Je aktueller unsere Bedürfnisse, je weniger aktuell – wirklich oder scheinbar – die Gefahr, desto verführerischer wird ihre Missachtung.
    Und so erklärt sich die folgende Parabel, die ich dem Oberhaupt der Familie verdanke, die mich auf der Insel Oshima aufnahm. Als der Mann mir im dunklen und kalten, mit Schlamm verschmutzten Esszimmer Sake nachschenkte, erzählte er, nach einem berüchtigten Tsunami
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