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Sperrzone Fukushima

Sperrzone Fukushima

Titel: Sperrzone Fukushima
Autoren: William T. Vollmann
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nur um sich zu verbeugen, falls ein Besucher kommt. Schließlich fragte ich ihn nach seinem Befinden. »Wirklich besorgt bin ich nicht«, sagte er, »aber irgendwie ist mir unbehaglich.«
    »Was macht Ihnen das größte Unbehagen?«
    »Ich sehe die Autos, aber keine Menschen.«
    Ich erbarmte mich und bat ihn, uns auf den Rückweg zu bringen. Sehr langsam fuhren wir auf dem glatten Pflaster zur Gabelung der Straßen 399 und 36, und als der Weg dann wieder aufwärts in die Hügel führte, lange vor Herrn Satos Haus, ließ ich den Fahrer erneut anhalten, denn ich hatte noch eine Chance erspäht, als Journalistengeier auf etwas herabzustoßen: Es gab Anzeichen menschlichen Lebens! Ein älteres Paar, beide mit dem nahezu nutzlosen Papiermundschutz, eilte aus dem Haus, die geschotterte Auffahrt hinab, jeder zu seinem Wagen. Ich lief hin und wollte sie aufhalten, und die Dolmetscherin verbeugte sich allerhöflichst und bat sie, uns fünf Minuten zu gewähren, aber die Frau sagte: »Wir haben keine Zeit. Wir haben gerade zum ersten Mal nach unserem Haus gesehen, seit wir nach Tochigi umgesiedelt sind.« – »Wie lange ist das her?« Sie ließ die ganze berühmte Geduld und Höflichkeit von Tohoku fahren und kreischte: »Wir haben keine Zeit, wir haben keine Zeit!« Worauf sie ohne Abschiedsgruß in ihre Autos sprangen – der Mann schwitzte rundum seinen Mundschutz – und mit geradezu verkehrsgefährdendem Tempo die Straße 399 in Richtung Koriyama und Tochigi hinaufbrausten.
    Sie wirkten verängstigt, merkte der Fahrer an.
    Wir befanden uns auf dem Rückweg auf der Straße 399, es ging bergauf in Richtung Koriyama, vorbei an terrassierten Hängen und Pflaumenblüte, in meinen Handgelenken ein seltsames Stechen, bestimmt nur vom Sonnenbrand oder dem Potassiumjodid; nun ging es wieder bergab, silbrig glitzerte ein brauner Fluss in der Sonne, und da sprang das Dosimeter auf 2,8 Millirem um. Ich sagte nichts. Im Rückspiegel sah ich im traurigen Blick des Fahrers Verwirrung und Angst.
    »Seit zwei, drei Tagen tränen mir die Augen«, sagte er. »Hat das mit der Radioaktivität zu tun?«
    Dieser liebenswürdige, sture, regeltreue Mensch, geboren in einem Haus mit traditionellem Strohdach und stolz auf die gute Gesundheit seiner sechsundachtzigjährigen Mutter, der mir seine Quittung schon im Voraus ausgestellt hatte und daher entschieden jede Zuzahlung für die beiden Extrastunden verweigerte, die mein Trödeln in Anspruch genommen hatte – von dem Gefahrenzuschlag, den ich ihm geben wollte, ganz zu schweigen (einen Bruchteil davon nahm er an) –, er machte auf mich den Eindruck eines jener Toren, wie sie den Mächtigen auf der ganzen Welt so nützlich sind. Ich fragte ihn, ob er wisse, was Radioaktivität sei, und er sagte: »Keine Ahnung. Verdunstet das? Ist das eine Flüssigkeit?«
    »Sollte Tepco bestraft werden?«, wollte ich wissen.
    »Das war offizielle Regierungspolitik«, sagte er treu ergeben. »Sie haben es für die Nation getan.«
     

IV. KIRSCHBLÜTE

AM TAG MEINER ANKUNFT IN Hiroshima setzte das Energieministerium den Reaktorunfall hoch auf die Stufe 7, so schlimm wie Tschernobyl. Eine Behörde erklärte, bisher seien 370 000 Terabecquerel freigesetzt worden. Eine andere sprach von 630 000 Terabecquerel. 40 Ich vermutete, dass niemand Genaues wusste und alle logen.
    Ich fragte den rundgesichtigen Taxifahrer, was er für schlimmer hielt, den Reaktorunfall oder die Atombombe auf seine Stadt, und er antwortete: »Die Atombombe natürlich! Sie hat auf einen Schlag über 200 000 Menschen umgebracht!«
    (Eine Schautafel im Museum gab die Zahl der Todesopfer mit 140 000 bis Ende 1945 an.)
    Ich sagte, dass die Menschen in der Region Tohoku über die Ereignisse in Hiroshima offenbar wenig wussten und sie ihnen eher egal seien, worauf er mit seiner näselnden Stimme zurückgab: »Natürlich. In die Museen gehen mehr Ausländer als Japaner. Ich war damals drei Jahre alt. Am Tag zuvor hatte man uns befohlen, die Stadt zu verlassen, weil Hiroshima ein militärisches Zentrum und gefährdet war.«
    Er lachte, recht zynisch und verbittert, wie ich fand. Seine Mutter brachte ihn aufs Land, aber am Tag nach dem Abwurf von Little Boy kehrte sie aus Sorge um Verwandte nach Hiroshima zurück, was sie – die Glückliche! – für den Strahlungsopferstatus qualifizierte. »Sie hatte keine Symptome, aber als ich vierzehn war, wurde ihr Status anerkannt. Was mich angeht, wenn man den Hibakusha-Gesundheitspass besaß, wenn man
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