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Sperrzone Fukushima

Sperrzone Fukushima

Titel: Sperrzone Fukushima
Autoren: William T. Vollmann
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ich davon ausgehen musste, dass alles, was ich nicht in Tokio einlagerte, kontaminiert werden könnte, warum also mehr wegwerfen als nötig? Obwohl es mir gelang, jeden Tag zu duschen, von Oshima abgesehen, glaube ich nicht, dass ich einen sehr professionellen Eindruck machte; und vielleicht war es das Notizbuch, das ich dabeihatte, ein gelbes Ding mit grellroter Spiralbindung, verziert von einer Ballerina in pinkem Tutu, die ihren Knicks unter einer Wolke aus bunten Schmetterlingen macht, das den Ausschlag gab und die Polizisten hinter meinem Rücken kichern ließ. Egal; selbst in früheren Jahren, als ich schlanker und jünger war und mich für Interviews in meinen einzigen guten Anzug werfen musste, zauberte ich meiner Dolmetscherin bestenfalls einen leicht überraschten Ausdruck ins Gesicht, begleitet von der folgenden Lobrede: »Sie sehen beinahe gut aus!«
    Am vergangenen Abend hatten wir unsere gelben Küchenhandschuhe, Atemschutzmasken und so fort mit auf unsere Fahrt nach Miyako Oji genommen, aber das Dosimeter bewog uns, sie nicht zu benutzen. Außerdem hätten wir beide uns geschämt, uns so demonstrativ zu schützen, ohne dem Fahrer denselben Schutz anzubieten. In Amerika hatte ich mir in den Phantasievorstellungen von diesem letzten Besuch in der Gefahrenzone eine Art Spaziergang ausgemalt, wahrscheinlich alleine; ein Taxifahrer wäre im Fahrzeug geblieben, die Fenster zum Schutz vor verstrahlten Teilchen hochgekurbelt. Nur für den Fall, dass jemand mich begleitete, hatte ich alles doppelt dabei.
    Das ist natürlich keine Entschuldigung dafür, dass ich die Sicherheit einer hypothetischen dritten Person nicht eingeplant hatte; auch wenn ein Mensch, der bei Verstand war, es sehr wohl ablehnen konnte, an einen Ort zu fahren, der es ratsam erscheinen ließ, sich derart auszustaffieren; kurz, in letzter Sekunde hielten Hast und Anstand die Dolmetscherin und mich davon ab, in dieser Aufmachung aufzubrechen, auch wenn wir für den Fall der Fälle alles dabeihatten.
    Und so trugen wir beide einen Mundschutz mittlerer Qualität aus einem Geschäft für Pflegebedarf in San Francisco; wir boten unserem neuen Fahrer, den ich gleich vorstellen werde, einen besseren Mundschutz an, aber er war mit unserem zufrieden. Ich trug meine Mütze, den Regenmantel (offen, solange wir im Auto saßen), das dicke Hemd, das dünne Hemd, Unterwäsche, Jeans, Socken und Schuhe. Bei unserer Rückkehr nach Koriyama würde ich die gelben Handschuhe anziehen, dann die Schuhe mit einem feuchten Tuch abwischen, bevor sie für immer in einer Plastiktüte verschwanden, und dann den allergrößten Teil der Kleidung dieses Tages ebenfalls, zusammen mit den Handschuhen, entsorgen – kontaminierte Präsente für eine kontaminierte Stadt. Die schicken Atemschutzmasken, die Rucksäcke und alles andere, das man noch gebrauchen konnte, schenkten wir an jenem Abend einem Flüchtling in der Großen Palette, bevor wir uns in der Turnhalle auf Radioaktivität untersuchen ließen.
    Wie sich herausstellte, war unsere Tagesdosis nicht höher als an den beiden vergangenen Tagen in Koriyama: 0,4 Millirem in 24 Stunden. 35
    Zu meinem eigenen Lob muss ich sagen, dass dieses Ergebnis zum Teil meiner Besonnenheit zu verdanken war; ich achtete auf Windrichtung und Entfernung und warf alle paar Minuten einen Blick auf das Dosimeter; zusätzlich scheinen wir zwei sehr günstige Tage erwischt zu haben (eine Aussage, die ich widerrufen werde, sollte ich in den kommenden paar Jahren an einer für Cäsium typischen Krebsart erkranken). Die Dolmetscherin ließ mich später wissen, sie habe in der Zeitung gelesen, der höchste an irgendeinem bewohnten Ort aufgezeichnete Strahlungswert sei etwa 40 Kilometer nördlich des Reaktors gemessen worden: 16 020 Millisievert in 21 Tagen, das ergab 7 Millirem pro Tag; bei dieser Dosis hätte es nur 66 Tage gedauert, bis ich an meine Grenze von 5 Rem gekommen wäre. 36
    Zuerst gingen wir in die Große Palette. Ich wollte einen Flüchtling finden, der wusste, wie man in den inneren Kreis kam, ohne dass die Polizei sich einmischte. Unterwegs erklärte der Fahrer, Koriyama sei »das Wien des Orients«, eine Zuschreibung, auf die ich nicht im Traum gekommen wäre. Mir kribbelte und juckte die Zunge noch vom Potassiumjodid. Der Fahrer sagte: »Nun, bei uns gibt es keine direkten Schäden vom Reaktor, aber die Gerüchte gefallen mir nicht.«
    Sobald wir aus dem Taxi stiegen, sahen wir die Menschen in der Großen Palette ein und aus
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