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Sperrzone Fukushima

Sperrzone Fukushima

Titel: Sperrzone Fukushima
Autoren: William T. Vollmann
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gefranste Schlucht; vor uns, vor dem hellen bewölkten Himmel, baute sich ein graugrüner vulkanförmiger Berg auf. Ein alter Mann in einem rostbraunen Umhang quälte sich langsam und schwankend den Berg zu seinem Haus hinauf. Wir fuhren gerade in die Gemeinde Funehiki ein. Der Fahrer sagte: »Kennen Sie Tschernobyl? Ich habe es in den Nachrichten gesehen; da gibt es eine neunzig Jahre alte Frau, die ihr Gemüse selber zieht, allein lebt und manchmal krank wird, aber im Grunde geht es ihr gut.« Wie erbaulich, dachte ich.
    Als wir von der Straße abfuhren, die zu den berühmten Kalksteinhöhlen führt, und er sagte: »Unser Ziel ist 40 Kilometer vom Kraftwerk entfernt. Wenn Sie auf dieser Straße bleiben, kommen Sie direkt dorthin«, setzte in meinem Nacken ein leichtes Kribbeln ein. »Wenn Sie bis da hinten kommen, geht es den Berg hinauf und dann wieder hinunter.«
    »Sind Sie jemals dort gewesen?«
    »Einmal. Auf einer Führung. Damals hätten wir nie gedacht, dass so etwas passieren kann.«
    Als wir an jenem Nachmittag gewartet hatten, dass der Regenaufhörte, hatten die Dolmetscherin und ich unsere Potassiumjodid-Tabletten aus der Zeit des Kalten Krieges genommen, eine kleine Aufmerksamkeit meines Freundes Dave, der auf irgendeiner Waffenmesse ein Fläschchen gekauft hatte. Man solle die krümeligen gelbgrünen Tabletten nur bei Fall-out nehmen, stand auf dem Etikett. (Ich hatte tagelang ein Prickeln auf der Zunge und bekam Ausschlag; die Dolmetscherin blieb unbeeinträchtigt.) Im Nachhinein schäme ich mich dafür, dass wir nicht daran gedacht hatten, unserem Fahrer eine mitzubringen. Zum Glück hielt sich das Messgerät bei 2,4.
    Wir erreichten die Stadt Tokiwa und machten am Schrein halt. Meine Brille beschlug über dem Mundschutz so stark, dass ich ihn abnahm und dankbar die frostkalte Luft einsog. Die Dolmetscherin und ich stiegen die Steinstufen hinauf. Über dem holzverkleideten Opferstock regte sich die riesige maisgelbe Troddel von der Größe und Form eines Mädchenrocks, gebändigt (falls man so sagt) von einem großen Sechseck mit dem eingravierten Namen des Menschen, der sie gestiftet hatte, kaum im Wind. Ich erklomm die letzten Holzstufen, wie die Tradition es gebietet, auf Strümpfen, lugte durch die Fenster und sah, wie üblich, vor allem Düsternis, durchbrochen von der Spiegelung jener Troddel hinter mir und einem unbestimmbaren goldenen Leuchten tief im Inneren. Den Mundschutz wieder aufzusetzen war mir zuwider, aber ich tat es und machte mich an den Abstieg zu den Wolken und Kiefern, den steilen Abhang hinunter, über die baufälligen Steinstufen, die vielleicht vom Erdbeben beschädigt worden waren. Die Kiefern dufteten.
    Ich sagte dem Fahrer, das Dosimeter zeige noch immer einen sicheren Strahlungswert an, und fragte ihn, ob er willens sei, uns weiter zu fahren.
    »Klar«, lachte er. »Ich bringe Sie bis dahin, wo es nicht mehr weitergeht.«
    »Sie sagen es jeden Tag im Radio«, sagte er dann. »In den vergangenen Tagen war die Strahlung in diesem Gebiet sehr niedrig.«
    Also fuhren wir in Richtung Futaba. Die fahlen Hausdächer verschwanden zwischen den niedrigen Eichen. »Dieses Gebiet ist nah am Kraftwerk, aber man sagt, es komme nicht nur auf die Entfernung, sondern auch auf die Geographie an«, erläuterte er. Plötzlich kamen wir an ein gelbes Schild, nicht imposanter als das eines beliebigen Straßencafés, dessen rote Lettern warnten: GEFAHR: ZUGANGSBESCHRÄNKUNG IN 10  KILOMETERN . Wir befanden uns in der freiwilligen Evakuierungszone. Von hier an war die Straße kaum noch befahren. Im nächsten Dorf brannte praktisch kein Licht, abgesehen von den gelben Fenstern dreier Verkaufsautomaten auf dem Gehsteig, denen noch niemand den Stecker gezogen hatte. Vom nächsten Dorf trennten uns ein weiteres Schild nach Futaba und ein Hinweis, dass wir uns noch auf der Straße 288 befanden. Nun war es beinahe stockfinster, auch wenn ich ab und zu die Schattenrisse bewaldeter Bergkämme ausmachen konnte.
    Ich sagte dem Fahrer, diese Exkursion sei sehr interessant. Er kicherte: »Ich werde kooperieren, soweit es geht, ich lebe sowieso nicht mehr lange.«
    Die Straße wurde wieder kurvenreich. Bald würden wir in Miyako Oji sein (20 Kilometer vom Reaktor entfernt); dahinter erhob sich ein Berg, der uns, wie ich hoffte, vor Beta- und Gamma-Strahlung schützen würde. Ich erkundigte mich, ob es eine Legende gab, die man mit Miyako Oji verband; der Fahrer verneinte. »Was in dieser Gegend beliebt
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