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Sperrzone Fukushima

Sperrzone Fukushima

Titel: Sperrzone Fukushima
Autoren: William T. Vollmann
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gehen. Ich hielt eine Frau an, die jung aussah und ihr Enkelkind an die Brust drückte; das Kind und seine Mutter kamen aus Ohkuma, fünf Kilometer vom Reaktor entfernt; die Großmutter entstammte dem Dorf Kawauchi, genau auf der Grenzlinie des Zwanzig-Kilometer-Kreises. Kawauchi war heute unser Ziel.
    Die Großmutter sagte: »Seit dem 12. hatten wir den Opfern geholfen«, dem Tag nach dem Erdbeben und dem Tsunami. »Am 16. mussten wir selber unsere Häuser räumen. Es kommt mir vor wie ein Traum. Das Leben ist schwer. Meine Töchter leben alle sehr nah am Reaktor, sie haben alles verloren.«
    Sie mochte ihr Kawauchi jetzt noch nicht wiedersehen, und ein Mann, der heute dorthin fuhr, wollte vorher noch alles regeln, also heuerten wir den ersten Fahrer in der langen Schlange Taxis an, die dort warteten; der Fahrer sagte, wir müssten erst das Büro seiner Firma aufsuchen. Ich war dagegen, weil ich damit rechnete, dass mir wie üblich ein Höhergestellter einen Strich durch die Rechnung machte, aber alles ging glatt; sein Chef kam heraus und begutachtete uns, dann machte er mit dem Fahrer einen Preis aus. Ich sagte, die Reise könnte länger dauern als in unserer Abmachung vorgesehen und in diesem Fall würde ich mehr bezahlen. Der Fahrer, zurückhaltend, geradezu scheu, schien sich für diese Details nicht zu interessieren.
    Wir waren noch immer im Zentrum von Koriyama, als das Messgerät auf 2,7 umsprang. » Iiiih! «, kreischte die Dolmetscherin ängstlich. Ich wurde selbst ein wenig nervös und legte meinen zweitbesten Mundschutz an, den für Krankenpfleger vom vergangenen Abend; was das anging, ähnelte ich, als wir auf dieStraße 95 in Richtung Ono einbogen, nun also ungefähr meinen beiden Begleitern.
    Wir wanden uns aufwärts durch die gelbgrünen Hügel, der Bambus glänzte in der Sonne, ein Mann beackerte den Boden; das war hier noch nicht verboten, anders als im Dorf Iitate, das sich 40 Kilometer nordwestlich des Kraftwerks und somit außerhalb beider Evakuierungszonen befand; es hieß, Iitate werde bald geräumt werden.
    Ich ertappte mich dabei, dass ich öfter als sonst auf das Dosimeter sah. Der Fahrer schwieg. Unter dem Mundschutz stand mir der Schweiß auf der Oberlippe. Als wir in Ono einfuhren, sahen wir am Straßenrand Geröll, das nichts mit dem Beben zu tun haben mochte, und ein paar Flecken Schnee am Hang. Was für ein herrlicher Ort für Wanderungen in den Hügeln, dachte ich. Der Fahrer wies uns auf ein paar Nara-Bäume hin (gut für die Pilzzucht, sagte er; ein paar Tage darauf wurde auf dem Nachrichtenbildschirm im Schnellzug von Hiroshima nach Tokio gemeldet, in einer bestimmten Zone rund um den Reaktor dürften keine Pilze mehr geerntet werden, da die gesetzlichen Strahlungsgrenzwerte überschritten seien). In Ono gab es fast überall, wo ich hinsah, kleine Parzellen, in denen Gemüse angepflanzt war, in säuberlichen Reihen, jung und grün; war es giftig? Die Sonne schien mir seltsam warm auf die Handgelenke, vielleicht juckten sie aber auch vom Potassiumjodid. »Hier leben Bauern«, merkte der Fahrer zufrieden an; da begriff ich, dass er selbst vom Land kam.
    Wir bogen auf die Straße 349 ein, fuhren dann links auf die 36 in Richtung Tomioka, das zwangsgeräumt worden war. Im Stadtzentrum von Tamura (ein mit ziegelgedeckten Häusern gepflastertes Tal) standen viele allerliebst getrimmte Kiefern, und hinter den Hecken erhoben sich gelegentlich die bei japanischen Gärtnern so beliebten unregelmäßig phallischen Felsbrocken. Die Geschäfte hatten noch geöffnet. Wir ließen Tamura hinter uns, eine, wie der Fahrer uns erklärte, neu zusammengefasste Verwaltungseinheit aus kleinen Dörfern; ich fragte mich, ob der Ort bewohntbleiben würde. Auf der vom Beben aufgerissenen Straße rollte vor uns ein Polizeiwagen mit Blaulicht den Hügel hinauf. Dann drehte er um. »Vielleicht kommt er der Strahlung zu nahe!«, lachte der Fahrer, und wer wollte beschwören, dass er Unrecht hatte? Handelt diese Geschichte doch von Dingen, die kaum zu glauben sind, geschweige denn zu verstehen.
    Wir machten halt, um mit einem alten Mann mit Gummistiefeln, Wathose und Fischermütze zu sprechen; über den Schultern trug er eine jener langen Stangen, an denen man geernteten Reis zum Trocknen aufhängt. »Tut mir leid«, sagte die Dolmetscherin, »ich kann seinen Dialekt nicht verstehen.« Sie hörte heraus, dass die Reisfelder auf der anderen Seite der Straße ihm gehörten; er besaß ein größeres Stück Land,
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