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Sperrzone Fukushima

Sperrzone Fukushima

Titel: Sperrzone Fukushima
Autoren: William T. Vollmann
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Leichen bergen können. Unglücklicherweise sei der Friedhof fortgespült worden.
    »Innerhalb eines Radius von 30 Kilometern durften wir bleiben. Die Empfehlung lautete, drinnen zu bleiben. Der Bürgermeister wies uns an, die Evakuierung ›eigenverantwortlich‹ durchzuführen, also wohnen manche noch immer dort.«
    »Was ist Ihre Meinung zum Reaktorunfall?«
    »Alle haben immer gesagt, Atomkraft sei sicher …«
    »Hier eine Frage, die mich ratlos macht, Frau Hotsuki. Als Bürger des Landes, das Atombomben auf Japan abgeworfen hat, frage ich mich, wie dies in Ihrem Land zweimal geschehen konnte. Beim ersten Mal waren Sie unsere Opfer, und dann, so scheint es, haben Sie sich dasselbe ein zweites Mal selbst zugefügt.«
    »Von der Atombombe wissen wir nicht viel«, erklärte sie. »Das ist ziemlich weit von hier, Hiroshima und Nagasaki, und wir haben nur von unseren Eltern gehört, da sei irgendein Flugzeug gekommen und so weiter. Sie haben nicht darüber geredet.«
    »Warum nicht?«
    »Wenn man nicht hinfährt und es selbst sieht, dann interessiert man sich vielleicht nicht dafür.« Frau Hotsuki versuchte, meine Erwartungen zu erfüllen, und kramte in ihren Erinnerungen. Dann wurde sie plötzlich ganz lebhaft, sie gestikulierte, verzog das Gesicht, als wäre sie den Tränen nahe, und sagte nickend: »Einmal habe ich in der Präfektur Chiba eine Ausstellung über die Kamikazepiloten gesehen. Ich war so gerührt, dass ich nicht mehr aufhören konnte zu weinen.«
    Vom Schicksal der Kamikazepiloten weniger gerührt, als es vielleicht angebracht gewesen wäre, grub ich das Thema Hiroshima und Nagasaki wieder aus. Es zeigte sich, dass die beiden Damen Hotsuki die Atombombe für schlimmer hielten als den Reaktorunfall, weil »wir ja immerhin umgesiedelt sind«. Minako, die junge Schwiegertochter, erklärte, vom Amt der Präfektur habe es geheißen, »man könne es einfach abbürsten, dann sei es schon gut, und man müsse nicht einmal durch die Strahlungsuntersuchung. Da ging es uns besser.«
    Unwissenheit ist Stärke, wie Orwell sagen würde. Oder hatte das Amt Recht? Teilchen mit Alpha-Strahlung waren nahezu harmlos, wenn es einem gelang, sie nicht einzuatmen; Beta-Strahlung konnte, waren die strahlenden Teilchen einmal abgewaschen oder abgebürstet, keinen Schaden mehr anrichten. Während ich mich bemühte, darzulegen, warum diese Vorgehensweise unzulänglich sein könnte, trat unter Verbeugungen ein hübsches Mädchen mit einem roten Armband ein, mit der Ansage, dass die Kinderbetreuer wieder da seien und diesmal Süßigkeiten mitgebracht hätten; außerdem wollte sie wissen, ob jemand krank geworden sei. Es war also vielleicht alles in bester Ordnung; so höflich ich mich auch bemühte, keine meiner beiden Gesprächspartnerinnen wollte einen Zehntausend-Yen-Schein annehmen, nicht einmal um der Kinder willen; mochte man da nicht gerne glauben, dass es ihnen an nichts mangelte?
    Als ich mein Interview in der Tasche hatte, wagte ich es, mich dem Amtsapparat zu stellen, und so traf ich einen bebrillten, pickligen und schmalgesichtigen jungen Mann, Herrn Maeda, der sich mir gegenüber als »ein einfacher Angestellter dieser Einrichtung« auswies. »Bevor dies in Ihrem Artikel erscheint, müssen Sie auf dem Bürgermeisteramt anrufen. Das hat man mir gesagt.« (Ich habe seine Instruktionen unentschuldbarerweise nicht befolgt, doch, Leser, solltest Du dies tun wollen, die Telefonnummer lautet 022-214-1148.) Er fertigte höchst eifrig eine Fotokopie meiner Akkreditierung als Journalist an; zum Glück hatte meine Dolmetscherin mich immer daran erinnert, sie säuberlich zu falten und in Ehren zu halten. »Was glauben Sie«, fragte ich, »wie gefährlich ist die Strahlung?« Herr Maeda antwortete: »Hier ist niemand besonders beunruhigt.«
     
     
EIN ALTER MANN BEI DER AUSSAAT
     
    In Ishinomaki, so hieß es, sehe es jetzt so aus wie vor zwei Wochen in Sendai. In Sendai hatten manche zwei Tage lang auf ihren Dächern ausgeharrt, bevor das Wasser zurückgegangen war. In Ishinomaki gab es Menschen, die eine Woche lang auf dem Dach in der Falle gesessen hatten.
    Andererseits war Ishinomaki noch besser weggekommen als Rikuzentakada. Aber egal; gibt es nicht immer einen Ort, an dem alles noch schlimmer ist?
    Die Fünfzig-Kilometer-Fahrt im Wagen der Professorin der Veterinärwissenschaft hätte normalerweise eine Stunde in Anspruch genommen. Seit dem Beben gab es Staus. Es dauerte beinahe zwei Stunden bis nach Ishinomaki; und ich
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