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Sozialdemokratische Zukunftsbilder

Sozialdemokratische Zukunftsbilder

Titel: Sozialdemokratische Zukunftsbilder
Autoren: Eugen Richter
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ließ sich aus Anlass seines heutigen Falles mit mir in ein Gespräch ein über die erschreckliche Zunahme der Selbstmorde in der sozialisieren Gesellschaft. Ich frug ihn, ob etwa eine unglückliche Liebe Schuld sei an dem heutigen Fall. Das verneinte er bestimmt, obwohl solche Fälle jetzt ebenso, wie früher vorkämen. Denn es kann doch auch jetzt von Staatswegen Niemand verhindert werden, Körbe auszuteilen. Der alte Herr, der früher Militärarzt war, suchte die Zunahme der Selbstmorde anders zu erklären. Er sagte, dass auch beim Militär die Selbstmorde zu einem erheblichen Teil davon herrührten, dass manche junge Leute, obwohl es ihnen an zureichender Nahrung, Kleidung und Wohnung nicht mangelt, sich in den ungewohnten Zwang der militärischen Verhältnisse durchaus nicht zu schicken vermöchten. Und dabei hatten dieselben noch Aussicht in zwei oder drei Jahren wieder entlassen zu werden und zu der gewohnten Freiheit im Tun und Handeln zurückzukehren. Man darf sich darum nicht wundern, so meinte er, dass jetzt die aus den neuen Organisationen der Produktion und Konsumtion folgenden großen und dabei lebenslänglichen Beschränkungen der persönlichen Freiheit zusammen mit der sozialen Gleichheit bei vielen Personen, und darunter nicht den schlechtesten, den Reiz des Daseins bis zu einem Grade vermindern, welcher sie zulegt den Selbstmord als den einzigen Ausweg betrachten lässt um diesem Zwang eines öden, gleichförmigen, durch keine Energie ihres Willens abänderlichen Daseins zu entrinnen. Der alte Herr mag so ganz unrecht dabei nicht haben.
    Von Franz und Agnes aus Amerika gute Nachricht. Der einzige Lichtpunkt in meinem Dasein. Sie haben bereits das Kosthaus in New-York, welches sie unmittelbar nach ihrer Verheiratung bezogen, verlassen und sich eine eigene, wenn auch recht beschränkte Häuslichkeit einrichten können. Franz ist in Anerkennung seiner tüchtigen Leistung und seiner Solidität Faktor in einer nicht unbedeutenden Druckerei geworden. Agnes arbeitet für ein Putzgeschäft, dessen Verdienst sich in Amerika außerordentlich gehoben hat, seitdem die deutsche Konkurrenz in Putzwaren für Amerika leistungsunfähig geworden ist. Durch Sparsamkeit gelingt es ihnen, ein Stück nach dem andern für ihre neue Häuslichkeit zu beschaffen. Franz hat sich über den Tod seiner kleinen Schwester sehr gegrämt und dringt in mich, Ernst zu ihm herüberzusenden. Er will für denselben auf jede Weise sorgen.
    Ernst dauert mich in der Erziehungsanstalt aus tiefster Seele. Man hört aus diesen Anstalten überhaupt nur Ungünstiges, namentlich aus denen, in welchen sich die reiferen jüngeren Leute im Alter von 18 bis 21 Jahren befinden. Sie wissen, dass, wenn sie das 21. Lebensjahr erreicht haben, sie, gleichgültig, was und wie viel sie gelernt haben, an der Staatskrippe dieselbe gleichmäßige für alle bestimmte Nation vorfinden und es in keinem Falle darüber hinaus zu Etwas bringen können. Auch ob sie sich mit Lust und Liebe für einen Beruf vorbereitet haben, gewährt ihnen nicht die mindeste Sicherheit, diesem oder auch nur einem verwandten Beruf demnächst zugeteilt zu werden. So benutzen sie denn fast ausnahmslos die ihnen zur Ausbildung gewährte Zeit zu Ausschweifungen der verschiedensten Art, sodass letzthin Bestimmungen zu ihrer Kontrolle ergangen sind; wie sie nicht schärfer für Sträflingsschulen erlassen werden können.
    Trotzdem wage ich nicht, Ernst den Gedanken einer Flucht nahe zu legen. Selbst, wenn ich einen Weg wüsste, den Jungen auf ein ausländisches Schiff zu spedieren und Franz die Überfahrtskosten irgendwie sicher stellen könnte, so kann ich doch ohne Zustimmung meiner Frau nicht einen Schritt tun, der für das Lebensschicksal unserem unmündigen Sohnes von so entscheidender Bedeutung ist. Für meine Frau aber könnte bei ihrem jetzigen Zustand eine solche Mitteilung der Tod sein.

29. Eine stürmische Reichstagssitzung
    Seit der Verhandlung über die Sparkassengelder war ich nicht mehr im Reichstagsgebäude am Bebelplatz gewesen. Damals hatten die allgemeinen Neuwahlen noch nicht stattgefunden, und es waren daher die sozialdemokratischen Abgeordneten aus der Zeit vor der großen Umwälzung noch unter sich, da man alle anderen Mandate als angeblich aus der Kapitalherrschaft hervorgegangen für null und nichtig erklärt hatte. Heute füllten die neu gewählten Gegner der Sozialdemokratie die ganze linke Seite des Reichstagssaales aus, also etwa ein Drittel sämtlicher
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