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Sozialdemokratische Zukunftsbilder

Sozialdemokratische Zukunftsbilder

Titel: Sozialdemokratische Zukunftsbilder
Autoren: Eugen Richter
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reißend ab. Er erzählte mir mehrmals dasselbe, tat wiederholt Fragen nach Dingen, die schon beantwortet waren, und verwechselte sogar die Personen und Generationen in seiner Familie. Ein trauriges Alter!

34. Unheilvolle Nachrichten
    Der schlimmste Tag meines Lebens! Ich habe meine Frau besucht, sie kannte mich nicht mehr, redete irre. Ihr Gemütsleiden, die Folge des Todes von Annie und aller Aufregungen und Erschütterungen dieser Monate, hat, wie mir der Arzt sagt, sich als ein unheilbares herausgestellt. Sie leidet unter der Wahnvorstellung teuflischer Verfolgungen und soll noch heute hinausgebracht werden in eine Anstalt für Unheilbare.
    Fünfundzwanzig Jahre lang haben wir Freud und Leid zusammen ertragen und in innigstem Gedanken- und Herzensaustausch gelebt. Vor mir zu sehen die Genossin meines Lebens, das alte, liebe Gesicht die treuen Augen, fremd und irre, es ist schrecklicher, als durch den Tod getrennt zu werden!
    Draußen stürmt es von allen Seiten immer wilder. Doch was kümmert mich alles dies bei dem Seelenschmerz in meinem Innern! Es sollen in Ostpreußen und Elsass-Lothringen unglückliche Gefechte stattgefunden haben. Unsere Truppen haben nach angestrengtesten Fußmärschen, schlecht genährt und mangelhaft bekleidet, trotz aller Tapferkeit keinen nachhaltigen Widerstand zu leisten vermocht. Der Aufstand in Berlin wird immer allgemeiner, er beherrscht schon das ganze rechte Spreeufer und diesseits die Stadtteile und Vororte jenseits des Landwehrkanals. Aus der Provinz kommt den Aufständischen immer mehr Zuzug. Die Truppen sollen teilweise zu denselben übergegangen sein.
    Die Revolution ist also über den Kreis der Eisenarbeiter und ihrer besonderen Forderungen sogleich hinausgewachsen. Sie gilt jetzt der Beseitigung des sozialdemokratischen Regiments. Auch ich muss mich verfluchen, dass ich so viele Jahre hindurch dazu beigetragen habe, Zustände, wie wir sie in diesen Monaten erlebt, heraufzubeschwören. Ich tat es aber nur, weil ich davon eine glücklichere Zukunft für Kinder und Kindeskinder erhoffte. Ich verstand es nicht besser. Aber werden mir meine Kinder es je vergeben können, dass ich mitgewirkt zu den Ereignissen, deren Folgen ihnen die Mutter und die Schwester geraubt und unser ganzes Familienglück verrichtet haben?
    Um jeden Preis muss ich meinen Ernst sprechen, mich drängt es zu ihm, ich will ihn warnen, sich hinauszubegeben auf die Straße, wozu solche junge Leute in der Aufregung der Tage nur zu leicht versucht sind. An freier Zeit, um die Erziehungsanstalt zu besuchen, fehlt es mir ja jetzt auch nicht mehr am Tage. Als politisch Verdächtiger bin ich meines Postens als Kontrolleur enthoben und zur nächtlichen Straßenreinigung versetzt worden. Ob dort meine Arbeit nicht eine Blutarbeit werden wird!

35. Letztes Kapitel
    Herrn Buchdruckereifaktor Franz Schmidt
    New-York.
    Mein teurer Bruder! Sei stark und fasse Dich, denn ich habe Dir trauriges zu melden. Unser guter Vater ist nicht mehr. Auch er ist ein unschuldiges Opfer des großen Aufstandes geworden, welcher seit Tagen Berlin durchtobte.
    Vater wollte mich in der Erziehungsanstalt besuchen, um mich vor der Beteiligung an Straßenaufständen zu warnen. In der Nähe unserer Anstalt hatte vorher, was Vater offenbar nicht wusste, ein Gefecht mit der Schutzmannschaft stattgefunden. Ein Teil derselben war in unsere Anstalt geflüchtet. Die Gegner lagen im Hinterhalt. Wahrscheinlich hat einer derselben Vater für einen Sendboten der Regierung gehalten. Ein Schuss aus einem Bodenfenster traf ihn, und er verschied auf der Straße nach wenigen Augenblicken. Es war furchtbar, als man den Toten in unseren Hausflur brachte und ich den eigenen Vater erkannte.
    Er ist ein Opfer seiner väterlichen Fürsorge geworben. Um der Zukunft der Seinigen willen war er Sozialdemokrat geworden, aber von seinen Irrtümern vollständig zurückgekommen.
    Über den traurigen Zustand unserer geliebten Mutter und über Großvater hat Vater Dir noch selbst geschrieben. In meinem jähen Schmerz und in meiner Verlassenheit bist Du, geliebter Bruder, mein einziger Gedanke und meine Zuflucht. Wenn ich diesen Brief aufgebe, habe ich die deutsche Grenze schon hinter mir. Nach Holland zu soll dieselbe ganz unbewacht sein. Dort kann ich von der Geldanweisung, welche Du mir übersandtest, Gebrauch machen.
    Hier geht alles drunter und drüber. An den Grenzen blutige Niederlagen, im Innern Anarchie und vollständige Auslösung. Wie alles so gekommen, darüber
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