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Sozialdemokratische Zukunftsbilder

Sozialdemokratische Zukunftsbilder

Titel: Sozialdemokratische Zukunftsbilder
Autoren: Eugen Richter
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unter den Hunderten von kleinen Wesen. Die vorgeschriebene Ventilation bringt stets einen frischen Luftzug in die Schlafstube. Vielleicht war auch das Kind beim Baden, nicht rasch und sorgsam genug abgetrocknet, es muss ja in solchen großen Anstalten gar manches etwas summarisch besorgt werden. Vielleicht auch hat die veränderte Ernährungsweise das Kind schwächer und daher empfindlicher gemacht, als es bei uns zu Hause war. Doch was hilft uns jetzt alles Nachforschen und Grübeln; unsere teure Annie kann dadurch nicht wieder lebendig werden.
    Wie wird meine teure Frau solches Leid überstehen? Sie war so erschüttert und gebrochen, dass sie aus dem Kinderheim zu Wagen direkt in die Krankenanstalt übergeführt werden musste. Ich selbst kam erst später hinzu. Annie war unser Nesthäkchen, ein Spätling, als einzige Tochter nach den Jungen. Was Alles haben wir von dem Kinde gehofft und geträumt, wenn es erst erwachsen sein würde.
    Ernst, der gute Junge, soll es, erst morgen durch mich erfahren. Großvater darf es gar nicht wissen; er hatte Annie seit Mutters Geburtstag nicht mehr gesehen. Nun kann er ihr nicht mehr Geschichten erzählen, wie so oft, wenn sie auf seinem Schoße saß und immer wieder aufs Neue von Rotkäppchen und dem Wolf zu hören verlangte. Franz und Agnes in ihrem Amerika haben natürlich keine Ahnung. In zehn Tagen werden sie erst meinen Brief erhalten. Franz liebte seine kleine Schwester so zärtlich. Fast jedes Mal brachte er ihr etwas mit, wenn er von der Arbeit heimkehrte. Das wusste der kleine Schelm und stürmte ihm schon auf der Treppe entgegen, sobald er Franz kommen hörte ober sah. Vorbei, Alles vorbei mit so manchem Anderen innerhalb einiger Monate.

26. Das Wahlergebnis
    Bei so viel Herzeleid erscheint alles Politische gleichgültig und schal. Wenn die Gegenwart schweren Kummer auferlegt, verblasst die Sorge um eine entferntere Zukunft.
    Franz hat in der Schätzung des Wahlergebnisses Recht behalten. Er meinte in seinem letzten Brief, dass in einer Gesellschaft, worin es keine persönliche und wirtschaftliche Freiheit des einzelnen mehr gibt, auch die freieste Staatsform keine politische Selbständigkeit mehr ermögliche. Wer derart in allen seinen persönlichen Lebensbeziehungen von der Regierung abhängig ist, wie es jetzt bei uns für die gesamte Bevölkerung zutrifft, vermag nur in den seltensten Fällen die moralische Kraft zu gewinnen, auch nur durch einen geheimen Stimmzettel eine den zeitigen Machthabern unerwünschte politische Wahl zu betätigen. So wenig wie für Soldaten in der Kaserne und für Sträflinge im Gefängnis könne das politische Wahlrecht in unserer sozialdemokratischen Gesellschaftsordnung eine ernsthafte Bedeutung haben.
    Es ist richtig, die Regierungspartei hat ohne besondere Anstrengungen — nur etliche offenbar aus politischen Gründen zur Statuierung von Beispielen vorgenommene Versetzungen von Führern aus der „Freiheitspartei“ und der Partei der „Jungen“ wirkten einschüchternd — trotz aller herrschenden Missstimmung über zwei Drittel der abgegebenen Stimmen erhalten.
    Ich selbst habe unter der Wucht des Schicksalsschlages, welcher meine Familie betroffen, entgegen meiner ursprünglichen Absicht für die Regierungspartei gestimmt. Denn, was sollte aus mir und meiner Frau werden, wenn wir in unserer, jetzigen Gemütsverfassung noch voneinander getrennt würden durch eine Versetzung meinet Person in irgendeinen entlegenen Provinzialort.
    Seltsam ist es, dass gerade auf dem Lande, wo die größte Missstimmung herrscht, die meisten Stimmen für die Regierung abgegeben worden sind. Freilich rennt man sich dort, wo jeder einzelne noch mehr kontrolliert werden kann, als in der dichtgedrängten Bevölkerung einer Großstadt, mit der selbständigen Kundgebung einer oppositionellen Ansicht bei solcher Gelegenheit weniger heraus. Auch haben hier gerade in den unruhigsten Bezirken die letzten militärischen Maßnahmen sehr einschüchternd gewirkt.
    In Berlin selbst ist die Regierungspartei in der Minderheit geblieben, so dass, da Berlin unter dem Proportionalwahlsystem nur einen einzigen Wahlkreis bildet, die Mehrheit der Berliner Abgeordneten der Opposition in der „Freiheitspartei“ angehört.
    Die „Jungen“ haben schlecht abgeschnitten und trotz der starken Unterstützung der Frauenpartei für allgemeines Verehelichungsrecht nur einen einzigen Kandidaten durchgebracht. Die Stimmung im Volke ist offenbar nirgendwo mehr für einen weiteren
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