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Souvenirs

Souvenirs

Titel: Souvenirs
Autoren: David Foenkinos
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lieber vergessen, wollte von niemandem daran erinnert werden, in welch elendem Zustand er sich befand. Meine Großmutter leistete ihm Nachmittag für Nachmittag Gesellschaft, siestrickte, aber ich spürte, dass ihm selbst ihre Gegenwart unerträglich war. Er hätte sie am liebsten rausgeschmissen, er wollte, dass man ihn in Ruhe ließe, in Ruhe krepieren ließe. Es war eine Zeit, die sich endlos lange hinzog, er hatte ständig eine Mandelentzündung oder Lungeninfektion, als müsse er büßen für die gute Gesundheit, derer er sich ein Leben lang erfreut hatte. Man stellte eine Verletzung am Auge fest. Er verlor sein Augenlicht fast vollständig. Er versuchte, daran zu glauben, er könne es zu hundert Prozent wiedererlangen. War zu allen möglichen Übungen bereit, beugte sich den Anweisungen derer, die der Hoffnung anhingen. Doch die Qualen verätzten sein Gesicht. Das andere Auge blinkte dramatisch, wie ein Hilfssignal. An manchen Tagen war er ganz entstellt.
     
    Und nun ist er nicht mehr.
     
    Als ich seinen toten Körper auf der Bahre betrachtete, ließ mich ein Bild erschaudern: das einer Fliege. Die sich auf ihm niedergelassen hatte. So sah er also aus, der Tod. Wenn sich einem Fliegen ins Gesicht setzen und man sie nicht mehr verscheuchen kann. Es war dieser Anblick, der wohl am betrüblichsten war. Der dieser fetten Scheißfliege, die sich über seine Leiche hermachte. Seitdem schlage ich alle Fliegen tot. Man kann von mir nicht mehr behaupten: Er würde keiner Fliege etwas zuleide tun. Diese spezielle Fliege, darüber habe ich mir in der Folge so meine Gedanken gemacht, war sich nicht einmal darüber im Klaren, wo sie ihre Fliegenfüßchen hinsetzte, wusste nichts von meinem Großvaterund ließ sich auf diesem Abschiedsbild nieder, ohne irgendeine Ahnung davon, dass dieser Mann einmal ein erwachsener Mensch, ein Jüngling, ein Neugeborenes gewesen war. Eine ganze Weile stand ich da und beobachtete sie, dann kam mein Vater. Mit einem Gesichtsausdruck, den ich an ihm noch nie gesehen hatte. Ich sah ihn zum ersten Mal weinen. Es war ganz seltsam, das zu erleben. Seine Tränen bildeten einen Fisch mit Beinen. Ich hatte immer geglaubt, Eltern könnten nicht weinen. Indem sie uns das Leben schenken, trocknen ihre Drüsen aus. So standen wir schweigend da, wie es eigentlich unserer Gewohnheit entsprach. Aber wir kamen irgendwie in Verlegenheit. In die Verlegenheit, dem anderen unseren Kummer mitteilen zu müssen. An guten Tagen war ich imstande zu denken, dass die Gefühlsarmut meines Vaters eine Form von Takt war. Nun war dieser Takt fehl am Platz. Wir schämten uns, unseren Schmerz zu zeigen. Doch da wir unverbesserlich sind in der unaufhörlichen Inszenierung unserer Leben, wollen wir zugleich auch, dass der Schmerz sichtbar wird. Wir weinen, um dem anderen zu zeigen, dass wir weinen.
     
    Wir harrten eine ganze Weile schweigend aus. Drei Generationen von Männern. Als Nächstes ist er an der Reihe, dachte ich, und mein Vater dachte anscheinend das Gleiche. Die Sache ähnelt einem Grabenkrieg: Wenn der vor einem postierte Soldat fällt, steht man auf dem Schlachtfeld in vorderster Front. Der Vater hat die Aufgabe, den Tod abzuwenden, uns vor ihm zu bewahren. Stirbt der Vater, tut sich das Nichts auf. Ich schaute lange meinen Großvater an, dochdas war nicht mehr er. Ich hatte diesen Mann gekannt und geliebt, als er gelebt hatte. Aber das hier war nur eine Wachsfigur, eine seelenlose Leiche, eine groteske Darstellung erloschenen Lebens.
     
    Nach und nach trafen sämtliche Familienmitglieder ein, eine düstere Lebewohlprozession. Mit von der Partie natürlich auch meine Großmutter, der es mit unbeschreiblicher Würde gelang, sich auf den Beinen zu halten, obwohl doch jede Faser in ihr zerrissen war. Dann begann sie plötzlich voller Schmerz zu schreien. Schrie, sie wolle ihm auf der Stelle folgen in den Tod. In dieser im Aussterben begriffenen Generation herrscht die Vorstellung vor, im Leben wie im Tod vereint zu sein. Wer im Leben vereint war, stirbt auch gemeinsam. Ich spürte, meine Großmutter meinte es ernst. Man musste sie zurückhalten. Wir gaben uns Mühe, sie zu beruhigen, brachten sie dazu, ein bisschen Wasser zu trinken, aber ich hatte dennoch den Eindruck, dass sie sich in ihr Leid nicht fügen wollte. Auf dem Friedhof einige Tage später stand sie einen Moment lang am offenen Grab. Ihr war bewusst, sie ließ eine Blume auf ihre künftige Ruhestätte fallen. Der Regen hatte aufgehört, wir
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