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Souvenirs

Souvenirs

Titel: Souvenirs
Autoren: David Foenkinos
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lange überschritten hatte.
     
    Wenn er mich von der Schule abholte, freute ich mich. Er nahm mich mit in die Kaffeehäuser, und am Abend konnte ich noch so sehr nach Zigarettenqualm stinken, vor meiner Mutter leugnete er, was doch auf der Hand lag. Keiner glaubte ihm, aber er verfügte über den enervierenden Charme eines Mannes, dem man nie einen Vorwurf machte. Meine ganze Kindheit hindurch hatte ich sein vergnügtes und immer zu Späßen aufgelegtes Wesen bewundert. Man wusste nicht recht, welcher Arbeit er nachging, er wechselte in einem fort den Beruf, war mehr so etwas wie ein Schauspieler. Verdingte sich abwechselnd als Bäcker, Kfz-Mechaniker, Blumenhändler und womöglich gar als Psychotherapeut. Im Anschluss an die Beerdigung erzählten mir einige seiner Freunde, die den Weg auf sich genommen hatten, allerhand Anekdoten über ihn, und ich verstand, dass das Leben eines Menschen immer ein Rätsel bleiben muss.
     
    Meine Großeltern hatten sich auf einem Ball kennengelernt.[ ∗ ] Das war damals so üblich. Es gab sogenannte Tanzkarten, auf denen die Damen die Namen der Tanzpartnereintrugen, die sich für die einzelnen Tänze angekündigt hatten, und die Tanzkarte meiner Großmutter war ordentlich voll. Mein Großvater erspähte meine Großmutter, sie tanzten und jedermann konnte sich davon überzeugen, wie harmonisch sie beide in den Knien federten. Ihre Kugelgelenke brachten eine Art Rhapsodie aufs Parkett. Ihre augenscheinliche Eintracht mündete in eine Hochzeit. Von dieser Hochzeit habe ich ein erstarrtes Bild, denn es existiert von diesem Tag nur eine einzige Aufnahme. Ein Beweisfoto, das mit der Zeit seine Vormachtstellung über alle Erinnerungen an ein Ereignis zementiert. Es folgten einige romantische Spaziergänge, ein erstes Kind, dann ein zweites und ein totgeborenes. Wie unvorstellbar brutal muss diese Vergangenheit gewesen sein, in der man ein Kind verlor, so, wie man mal auf einer Treppe ausrutschte. Im sechsten Schwangerschaftsmonat hatte man den Tod des Kindes festgestellt. Meine Großmutter hatte schon bemerkt, dass es sich nicht mehr bewegte, aber sie hatte nichts gesagt, wollte ihre Angst nicht in Worte fassen, redete sich ein, dass alles in Ordnung war. Auch Babys haben ein Recht auf Erholung. Manchmal sind sie es leid, im Uterus ihre Runden zu drehen. Doch schließlich hatte sie die grausame Wirklichkeit erkennen müssen: Der Tod hatte sich in ihrem Bauch eingenistet. So wartete sie drei Monate, bis sie ihn aus sich herauspressen konnte. Man ging bei der Entbindung nach dem gängigen Schema vor. Das Kind wurde in aller Stille beigesetzt. Anstatt es in eine warme Decke zu wickeln, hüllte man es in ein Leichentuch. Das leblose Kind erhielt den Vornamen Michel. Meiner Großmutter blieb zur Niedergeschlagenheitkeine Zeit. Sie musste arbeiten, sich um die anderen Kinder kümmern, und dann wurde sie erneut schwanger. Ich fand das immer merkwürdig, aber sie gaben diesem kleinen Jungen den Namen Michel. Damit ist mein Vater der zweite Michel, und er trägt den Geist der ihm vorangegangenen Totgeburt in sich. Kinder nach einem Toten zu benennen, war damals geläufig. Bevor ich es irgendwann aufgab, habe ich oft versucht, mich meinem Vater anzunähern. Ich schrieb die Tatsache, dass er sich mir andauernd entzog, dem ihm innewohnenden Geist zu. Man sucht immer nach Gründen für die Gefühlsengpässe der Eltern. Man sucht immer nach Gründen für den Mangel an Liebe, der an einem nagt. Aber mitunter ist dazu einfach nichts zu sagen.
     
    Die Jahre zogen ins Land, Kriege kamen, Mauern wurden gebaut, und die ersten beiden Söhne zogen von zu Hause aus. Mein Vater blieb allein bei seinen Eltern zurück, und damit begann eine für ihn zumindest komische Zeit. Er war auf einmal Einzelkind. Die ganze Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf ihn, es war erdrückend. Er zog daher ebenfalls aus, ein bisschen früh, um seinen Militärdienst anzutreten. Ausgerechnet er, der feige Pazifist. Meiner Großmutter blieb der Tag, an dem ihr letzter Sohn das Haus verließ, im Gedächtnis haften. «Endlich allein!», hatte der Großvater ihr zugeflüstert, ein vergeblicher Versuch, das Drama herunter- und den Schrecken zu überspielen. Beim Abendbrot hatten sie den Fernseher eingeschaltet, was immer verboten gewesen war, als die Kinder noch da waren. Für die Berichterstattung vom Schultag sprang die vom Konflikt in Afghanistanein. Die Erinnerung daran ließ meine Großmutter nicht los, denn sie erkannte in ihr,
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