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Sophies Kurs

Titel: Sophies Kurs
Autoren: Colin Greenland
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hochgekrempelt, und auf den Armen, die er vor der riesigen Brust verschränkt hat, schimmern bläuliche Tätowierungen. Einen Inch weit ragt der Griff eines kräftigen Prügels drohend aus seinem Gürtel.
    Der Besucher ist nicht beleidigt. Er mag eindeutige Sachverhalte. Er ignoriert den Bullen ebenso wie das Mädchen.
    Im Flur riecht es muffig nach gekochtem Gemüse. Das dünne, klägliche Wimmern eines Babys dringt aus einem Zimmer irgendwo im hinteren Teil des Hauses.
    »Darf ich Ihren Mantel haben, Sir?« fragt das Mädchen.
    Der Besucher antwortet nicht. Vielleicht ist der Gentleman ein Fremder und versteht kein Englisch.
    Das Mädchen hat den Auftrag, den Gästen die Hüte, wenn sie welche tragen, und, wenn sie es erlauben, die Mäntel abzunehmen – sozusagen als Bürgschaft. Wenn sie es nicht erlauben, ist hier sogleich Endstation. Mehr noch, es hat jeden Kunden, den es nicht kennt, zu befragen und sicherzustellen, daß er auch Geld hat. Aber da ist irgendwas an der Gelassenheit dieses Mannes, das sie hemmt. Sie wirft dem Bulligen einen Blick zu, doch der schweigt und rührt sich nicht.
    »Oben im Vorderzimmer«, sagt die Kleine. Sie verläßt den Flur, während der Besucher langsam die Stufen hinaufsteigt. Er ist ein Mann, und ebenso wie die anderen Männer auch nur ein Kunde, weshalb sich das Mädchen wieder ihren anderen Pflichten zuwendet –der Küche und dem plärrenden Kind.
    Die Tür zu Mollys Zimmer steht einen Spalt weit offen. Auf sein Klopfen öffnet die Frau. Da steht sie im Türrahmen, den üppigen Körper in einen verschlissenen blaurosa Morgenmantel gehüllt. Sie lächelt den Mann an, als kenne sie ihn schon seit Jahren. Sie lächelt mit Lippen und Zähnen, aber nicht mit den Augen. Ein bitterer Geruch strömt aus dem Zimmer hinter ihr, eine Komposition aus Puder, Meerkohle und Gin. Und der Geruch nach erschöpftem derben Fleisch.
    Mollys Besucher verschwendet einen Moment daran, sie zu betrachten, objektiv, wie mit den Augen eines anderen Menschen. Sie hat einen plumpen Körper mit großen Brüsten: der mütterliche Typ also, der sich um die Wehwehchen der Männer kümmert. Das schimmernde Orange ihrer Locken stammt aus der Flasche. Selbst zu dieser Stunde ist ihr Gesicht gepudert und angemalt, der Mund ein breiter, fleischiger Bogen in Karmesinrot. Die mit schwarzem Eyeliner betonten Augen sind müde, die Winkel schon voller Krähenfüße von dem Leben, das sie führt. Und doch ist noch Leben in diesen Augen. Die Frau sieht aus wie eine Vierzigjährige, die vorgibt, zwanzig zu sein. Vielleicht liegt ihr wirkliches Alter irgendwo in der Mitte, will man den Kalender als Maßstab nehmen. Sie sieht nicht krank aus.
    Der unscheinbare Mann macht eine unbewußte Geste. Er fährt sich mit der Fingerspitze über die Wange.
    »Kommen Sie doch herein, Sir. Bleiben Sie nicht draußen in der Kälte stehen.«
    Ihre Stimme. Ihre Stimme ist melodiös. Bestimmt ist das einer der Gründe, weshalb ...
    Er greift erneut in seine Tasche und legt Geld auf den Tisch neben dem Bett. Seine Bewegungen sind langsam, beiläufig, als habe das Geld keinerlei Wert für ihn, als habe er zu viel davon, um ihm besondere Aufmerksamkeit zu schenken.
    Molly Clare fragt sich jetzt auch, ob er vielleicht ein Gentleman von einer anderen Welt ist. »Der Herr segne Sie, Sir«, sagt sie. An der Dankbarkeit in ihrer Stimme merkt er, daß er ihr viel gegeben hat, vielleicht zu viel. Aber das macht nichts.
    Er sieht sich in ihrem Boudoir um. Es ist nicht so schlimm wie die Gegend. Es gibt sogar Gardinen mit Spitzen vor dem schmalen Fenster, und eine kümmerliche grüne Topfpflanze. In einem kleinen Kamin brennt ein Kohlefeuer. Zwischen ihm und dem Bett steht ein Korbsessel. Die Armstützen und den Sitz hat Mollys Gewicht mit der Zeit durchgedrückt. Auf dem Kaminsims ein wenig Schnickschnack und Zierrat –wahrscheinlich Geschenke von dankbaren Gönnern, denn die meisten Stücke sind offenbar aus Bronze oder Jade und nicht der übliche Kitsch aus Gips oder bemaltem Porzellan, den man eher in dem Zimmer einer Frau wie dieser erwartet hätte. Tatsächlich strahlt der Raum trotz der Verderbtheit seiner Nutzung eine Behaglichkeit aus, die der Welt draußen – Matsch und Ratten und kalter Novemberregen – eine Abfuhr erteilt.
    Das Bett ist aus Eisen, die Waschschüssel emailliert. Der Besucher sieht, daß der Nachttopf unter dem Bett mit einem Tuch abgedeckt ist. Inzwischen hat Molly den Morgenrock abgestreift, Wasser in die Schüssel
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