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Sophies Kurs

Titel: Sophies Kurs
Autoren: Colin Greenland
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Handknöcheln gegen die Wand des Gefährts. Dabei bemerken wir, daß er auch keine Handschuhe trägt. Der Kutscher schnalzt mit der Zunge, und die Kutsche rumpelt über die Straße davon.
    Die Bettler, die sich wieder hoffnungsvoll um den einzelnen Fahrgast sammeln – für die, die nichts besitzen, bleibt ja nur die Hoffnung – schauen ihn erwartungsvoll an. Zwischen den Kragenecken erkennen sie undeutlich ein weißes Männergesicht, das glattrasierte Gesicht eines Mannes von vielleicht fünfunddreißig Jahren. Der Mann ist klein und hat ein breitflächiges Gesicht mit braunem, gelocktem Haar. Er könnte fast ein Gentleman sein, nach der Kutsche, den verteilten Kupfermünzen und dem goldenen Siegelring zu urteilen, den die kleinen blauen Männchen mit scharfem Blick sofort an seinem Finger erspähen. Aber er trägt eine graubraune Hose aus Kammgarn, und die Stiefel ohne Gamaschen sind stumpf. Ganz bestimmt gehört er nicht hierher in dieses Armenviertel. Er wirkt auch nicht wie einer, der hier beruflich zu tun hat – ein Händler, ein Gerichtsdiener, oder gar ein Polizist. Er wirkt eher wie ein Allerweltsmensch. Er könnte eine Art Matrose sein – in diesem Mantel. Auch haftet ihm die typische Aura der Matrosen an, überall zu Hause zu sein, ob unter diesem unfreundlichen Himmel oder einem anderen. Die Art, wie er die Hände in die Taschen versenkt und mitten durch die Schar der Bettler davongeht, mit hoch aufgerichtetem Kopf, Schlamm und Pfützen mißachtend, stempelt ihn zu einem Mann, der ein Ziel hat, zu jemandem, der nie im Leben von seinem Weg abkommt, selbst hier nicht, in den elendsten, verschlungensten Winkeln und Gassen der Mütter aller Städte.
    Eine Glocke schlägt dumpf die volle Stunde, als er um die Ecke geht und die düstere Seitenstraße betritt, aus der die beiden Frauen gekommen sind. Ein Schild an der Mauer über seinem Kopf verkündet: Turkey-Passage. Der Besucher geht vorbei, ohne einen Blick darauf zu werfen. Eintönig rauscht der Regen herunter.
    Die Bettler sind verschwunden, haben sich in ihre finsteren Verstecke verdrückt. Vielleicht hat ihr auffällig rasches Verschwinden etwas zu tun mit den beiden großen, eindrucksvollen Gestalten, die durch den Regen herangekommen sind, im Laufschritt die Straße überquert haben und dem unauffälligen Mann um die Ecke nacheilen – zwei hünenhafte, breitschultrige Figuren in Paletots, mit Hüten auf den Köpfen, die wie übergroße schottische Mützen aussehen. Die Leichtigkeit, mit der sie sich durch den zähen Schlamm fortbewegen, spricht für ihre Herkunft von einer Welt mit einer weit größeren Schwerkraft als der hiesigen. Ob der Mann weiß, welch bedrohliche Anhängsel er sich da zugelegt hat, ist nicht festzustellen. Sein Rücken jedenfalls ist sehr unkommunikativ.
    Die zwei Schemen drücken sich in die Schatten der Hauseingänge und sind, obwohl die Passage sehr eng ist, nicht mehr zu sehen. Vielleicht könnte ein scharfes Ohr ihr Hecheln hören, rauh und tief wie das betagter Bulldoggen. Aber vielleicht ist es auch nur das Rauschen des Regens.
    Der unscheinbare Mann strebt durch die Turkey-Passage auf eine bestimmte Tür zu, als sei er dort schon einmal gewesen. Er klopft dagegen und wartet. Dabei läuft ihm eine Ratte über den Stiefel. Er tritt nach ihr, was das Tier mit einem schrillen Quieken quittiert. Weder lächelt er, noch schaut er über die Schulter zurück zu den tiefen Schatten der Hauseingänge hinter sich. Er wartet und denkt dabei an nichts.
    Ein junges Mädchen, dünn und blaß von nahezu zwölf wenig üppigen Sommern in der Stadt, öffnet die Tür einen Spalt und sieht ihn an. Sie beäugt ihn mißtrauisch. Sie kennt ihn nicht, und für Kunden ist es eigentlich noch zu früh.
    »Molly«, sagt der Mann mit gedämpfter Stimme, und sofort tritt die Türsteherin wortlos zurück, um ihn einzulassen.
    Während er über die Schwelle tritt, läßt der unscheinbare Mann seinen Blick über den Körper des Mädchens wandern. Ein zukünftiges Lehrmädchen in diesem Gewerbe, kein Zweifel. Zu jung, um ihn bereits zu interessieren, zeigt ihr schmales, junges Gesicht doch schon die Spuren dieses uralten Gewerbes. Er wendet seine Aufmerksamkeit von ihr ab.
    Der Flur des Hauses ist schmal und dunkel wie der Schacht in einem Kohlenbergwerk. Neben der offenen Tür des Hinterzimmers lehnt ein Mann an der Wand. Er grüßt den Besucher nicht, sondern mustert ihn nur. Er ist so wuchtig und kantig wie ein Stück Bauholz. Seine Ärmel sind
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