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Sommertochter

Sommertochter

Titel: Sommertochter
Autoren: Seydlitz Lisa Maria
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seriösen, dunklen Mantel und
mit zarten Falten um die Augen vor dem Grabstein stehe, auf dem noch immer der
kleine Frosch aus Bronze sitzt, ich stelle mir vor, dass ich auch in zwanzig
Jahren noch an dem Grab des jungen Paars stehen bleiben werde, als lägen dort
alte Bekannte.
    DER VATER, DEN ICH vor mir
sehe, ist etwa in meinem Alter, vielleicht etwas älter. Er steht in einer
kleinen Küche. Er leuchtet. Er nimmt die Kanne mit dem blubbernden Kaffee vom
Herd, schenkt ihn in zwei kleine Tassen ein. Er ruft einen Namen, den ich nicht
verstehe. Eine Frau betritt die Küche, sie summt ein französisches Lied, auch
sie leuchtet. Sie nimmt die Tasse, die ihr mein Vater reicht. Er streicht ihr
das Haar aus dem Gesicht, sie lächeln sich an. Sie müsse nachher noch zur Uni,
sagt sie und trinkt einen Schluck, ob er auch noch ein Seminar habe. Er gehe
zum Sprachkurs, sagt er und stellt seine leere Tasse auf den Tisch. Sie
verlassen das Haus. Mein Vater schwingt sich auf eine Vespa, die Frau setzt
sich hinter ihn, ihre langen Haare schauen aus dem Helm hervor. Der Auspuff
stottert, als sie auf der Hafenstraße der Sonne entgegenfahren. Sie fahren
nicht weit. Sie parken auf einem Fußgängerweg, stellen die Vespa an einem
Geländer ab. Arm in Arm gehen sie am Hafenbecken und den Fischern entlang, die
ihre Ware auf Tischen ausgebreitet haben. Über ihnen kreischen die Möwen. Die
Frau springt auf Vaters Rücken, er trägt sie ein Stück, sie rutscht wieder
herunter und lacht laut. Mein Vater holt ein paar Brotkrumen aus der
Hosentasche hervor und wirft sie vor sich auf den Boden, sofort tauchen ein
paar neugierige Katzen auf.
    Â» HEUTE UM 15 UHR HAST du
einen Termin bei einer Kinderpsychologin«, steht in der Handschrift meiner
Mutter auf einem Zettel, der in der Küche auf dem Tisch liegt. Dann steht da
noch die Adresse, die Praxis ist hier um die Ecke. Ich gehe hin. Ich will
meiner Mutter zeigen, dass ich eine Tochter bin, die alles versucht.
    Die Psychologin sieht reich aus. Ihre rotgeschminkten
Lippen, ihre gelockten Haare, die sanft auf ihren Schultern liegen. Sie könnte
jetzt auch ins Theater oder auf ein Konzert gehen. Ich setze mich in einen
Sessel, sie sitzt mir gegenüber. In der linken Zimmerecke brennt eine kleine
Lampe, rechts von mir steht ein Bücherregal, davor ein Tisch mit
Playmobilfiguren. »So, Juno, jetzt kannst du mir erzählen, was bei dir passiert
ist«, sagt die Psychologin. Ich sage nichts. Die Psychologin hat ein kleines
Ringbuch in der Hand, in das sie sich etwas notiert. Sie stellt die Frage
erneut. »Du bist jetzt mit deiner Mutter allein, das weiß ich schon mal. Was
fühlst du, wenn du an deinen Vater denkst?« Ich mag die Frau nicht. Sie sollte
lieber einkaufen gehen und sich ein paar neue Schuhe oder einen neuen Blazer
kaufen. Die Psychologin denkt sich etwas Neues aus. »Ich habe hier einen
Tisch«, sagt sie, »hier hast du Spielfiguren. Du kannst jetzt mit diesen
Figuren ein Bild malen.« Sie nimmt selbst ein paar der Figuren in die Hand und
schaut sie sich an. Ich denke, dass sie jetzt meine Familie sehen will, also
stelle ich zwei Figuren für meine Mutter und mich hin, und eine dritte, die
steht für den Besuch meiner Mutter. Der Mann und die Mutter stehen beisammen
und blicken in die gleiche Richtung, das Mädchen steht ein paar Schritte hinter
ihnen und schaut auf ihre Rücken. Ich erzähle der Psychologin, was ich mir
dabei gedacht habe. Sie nickt und macht sich Notizen.
    Â»Was ist diese Woche bei dir passiert?«, fragt die
Psychologin bei der nächsten Sitzung, ein erwartungsvoller Blick liegt in ihren
Augen. Ich antworte nicht, auch sie schweigt. »Ich rede lieber mit meinen
Freundinnen über das, was bei mir passiert ist«, sage ich irgendwann. Ich lüge.
Ich weiß nicht, ob die Psychologin merkt, dass es eine Lüge ist. Ich habe mit
niemandem aus der Schule darüber gesprochen, auch nicht mit Lena. Mehr sage ich
heute nicht.
    Zu Hause wartet meine Mutter auf mich. »Die Psychologin hat
angerufen«, sagt sie, »sie schlägt vor, dass wir die Therapie abbrechen.«
    IN MEINER ERINNERUNG SIND WIR drei, meine Mutter, mein Vater und ich. Ich erzähle Julie von unserem Haus, von
unserem einzigen Urlaub, vom Sport, den mein Vater bis zur Erschöpfung treibt,
von der Klinik, von der Überraschungsparty zum Geburtstag meines Vaters, vom
Keller und den Gürteln, die meine
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