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"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!"
Autoren: P Longerich
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Einleitung
    »Davon haben wir nichts gewusst!« Der Satz ist allgemein bekannt: Es ist die Antwort, die man wohl am häufigsten hört, wenn man Deutsche der älteren Generation befragt, was sie denn als Zeitgenossen seinerzeit über die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das NS-Regime in Erfahrung gebracht haben. Ein Satz, der viele Fragen aufwirft.
    Nicht selten wird er entschieden oder sogar entrüstet vorgebracht; er dient häufig dazu, den in der Frage nach der damaligen Kenntnis mitschwingenden oder auch nur vermuteten Vorwurf der Mitwisserschaft oder gar Mitschuld zurückzuweisen. Das Subjekt des Satzes, das »wir« – häufig heißt es auch, »man« habe nichts gewusst, selten wird das »ich« gebraucht -, deutet schon darauf hin, dass hier eine kollektive, im Laufe der Zeit zur Abwehr verfestigte Haltung vorliegt.
    Doch was genau hat man nicht gewusst? Das »davon« klingt zwar sehr bestimmt, so, als wisse man genau, was man damals nicht gewusst habe – allerdings bezeichnet dieses »davon« etwas, das der Sprecher offenbar nicht näher benennen oder beschreiben will. Handelt es sich um das Grauen der Vernichtungslager, um das Massensterben in Ghettos oder Arbeitslagern, um die Deportationen oder um das Gesamtausmaß der Verfolgung?
    Schließlich muss das Verb des Satzes unsere Aufmerksamkeit erregen: Geleugnet wird bezeichnenderweise meist nicht, dass man nicht etwas gehört oder geahnt hätte, sondern das damalige Wissen . Die kategorische Feststellung, man habe nichts gewusst – oder, auf Nachfrage, wirklich nichts gewusst -, schließt indes nicht aus, dass Gerüchte, Hinweise und Teilinformationen über den Judenmord eben doch bekannt waren, die aber, aus den verschiedensten Gründen, flüchtig blieben und sich nicht zu einem Gesamtbild, zum Wissen, verdichteten.
    Damit sind bereits einige der zentralen Probleme angesprochen, die in diesem Buch thematisiert werden sollen. Denn tatsächlich gehört die Frage, welche Kenntnis die zeitgenössische deutsche Bevölkerung von der Judenverfolgung hatte und wie sie auf die Verfolgung reagierte, zu den bisher nur unzureichend geklärten Problemen der Holocaust-Forschung. Ihre möglichst präzise Aufhellung ist aber unerlässlich, will man die nach wie vor brennende Frage beantworten, welche Basis die Verfolgung der Juden innerhalb der deutschen Bevölkerung letztlich hatte: War sie primär das Werk eines relativ kleinen und isoliert handelnden Kreises fanatischer Ideologen und konsequenter Schreibtischtäter, oder fand sie in der Bevölkerung breite Zustimmung, ja entsprach sie möglicherweise dem Willen breiter Bevölkerungskreise? Ist es möglich, solche Befunde für die einzelnen Phasen der Verfolgung – Diskriminierung, Segregation, Vertreibung, Deportation und schließlich Massenmord – weiter zu differenzieren? Und was ließe sich auf dieser Grundlage über den allgemeinen Zustand der deutschen Gesellschaft zu dieser Zeit sagen?
    Dieses Buch will einen Beitrag zu diesem größeren Themenkomplex leisten, indem es, auf der Basis der heute verfügbaren Informationen, den damaligen Kenntnisstand der deutschen Bevölkerung über die Judenverfolgung möglichst vollständig rekonstruiert und versucht, die damaligen Reaktionen auf diesen Kenntnisstand systematisch zu analysieren. Kenntnis und Reaktion der Bevölkerung, das ist der Ausgangspunkt dieser Untersuchung, lassen sich aber nur dann angemessen erfassen, wenn man sich immer wieder vergegenwärtigt, dass die Judenverfolgung durch das Regime in einem erheblichen Umfang öffentlich stattfand und offen propagiert wurde, ja dass die »Judenfrage« einen zentralen Stellenwert bei den Bemühungen des Regimes besaß, die »Öffentlichkeit« unter der Diktatur immer wieder auf das Regime und seine politisch-ideologischen Ziele hin auszurichten. Diese prinzipielle Öffentlichkeit der Judenverfolgung gilt nicht nur für die Vorkriegszeit, sondern auch für die Phase der Deportationen und Massenmorde in den Jahren 1941 bis 1943, in denen zwar die präzisen Einzelheiten des Mordprogramms als Staatsgeheimnis behandelt wurden, das Regime sich zugleich aber öffentlich dazu bekannte, dass es dabei war, eine radikale, eine finale »Lösung der Judenfrage« zu betreiben.
    Wir sind aber erst jetzt, mehr als sechzig Jahre nach Kriegsende, in der Lage, diese Ausrichtung der von den Nationalsozialisten künstlich hergestellten Öffentlichkeit für den gesamten Zeitraum 1933 bis 1945 nachzuzeichnen – und
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