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Sommertochter

Sommertochter

Titel: Sommertochter
Autoren: Seydlitz Lisa Maria
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Mutter wegschmeißt, von der Marmelade.
    Ich erzähle ihr von der »Liste der unerfüllten Wünsche«, die ich
schreibe, als wir in der Pension leben. Ich bewahre die Liste in der Keksdose
auf, in der ich früher Taschengeld sammelte. Immer wieder kommt ein Wunsch
dazu, den ich mit meinem Füller auf die Liste schreibe.
    Wieder in unserem Haus leben. Die Katze soll die Pension finden.
Sonnenurlaub mit meiner Mutter.
    Julie hört zu und sagt kein Wort. Sie sieht aus, als würde sie
schlafen. Nur manchmal nickt sie leicht mit dem Kopf.
    In meiner Erinnerung sind wir zwei, sind wir eins plus eins. Ich
erzähle von meiner Mutter, die im Licht der Laternen über die regennasse Straße
eilt, und ich erzähle von mir, die mit dem Fahrrad in einem Schlagloch hängen
bleibt, ich erzähle von mir, die im Pausenhof die Feuerkäfer und Regenwürmer
auf dem Boden zerquetscht. Ich erzähle Julie von Anna, meiner Halbschwester,
und von meiner eigenen, kleinen Wohnung.
    Â» ICH HABE JEMANDEN KENNENGELERNT «,
sagt meine Mutter. Sie ist ganz schmal an den Hüften und hager im Gesicht.
»Hallo Juno«, sagt der Freund meiner Mutter. Er steht im Flur, zieht seine
Schuhe aus und bleibt.
    Â»Wir haben genug Platz in der Wohnung«, sagt meine Mutter,
»wir sollten nur die Zimmer neu aufteilen.« Sie und ihr Freund bekommen
zusammen ein Schlafzimmer und ein Arbeitszimmer, mein bisheriges Zimmer mit dem
Balkon wird zum Wohnzimmer. Ich bekomme das hinterste Zimmer in der Wohnung,
mit einem Fenster und ohne Balkon. Es hat keinen Zweck, sich zu wehren. Wir
legen Teppiche und Decken unter die Möbel, die wir verrücken und durch die
Zimmer schieben. Unsere Wohnung, die wir zu einer ganz anderen machen. Eine
Wohnung, in der ich abends nicht mehr durch die Zimmer gehe oder in der Küche
noch einen Früchtetee trinke, eine Wohnung, in der ich nicht mehr auf das
Klingeln an der Tür lausche, abends um halb zehn. Ich gehe jetzt früher ins
Bett. Ich habe das Gefühl, dass ich störe, wenn ich abends in meinem
Schlafanzug und Zähne putzend durch unsere Wohnung gehe.
    Ich habe Angst vor einem Einbruch, davor, dass uns jemand
alles nimmt, was wir noch besitzen. Manchmal wache ich nachts auf und höre ein
Geräusch, ein Kratzen an der Wohnungstür. Vielleicht die Katze, denke ich, sie
hat uns gefunden. Ich kann nicht wieder einschlafen. Ich muss mich
vergewissern, dass wirklich niemand ein Stemmeisen zwischen Tür, Rahmen und Schloss
schiebt, dass es wirklich nicht die Katze ist, die an der Tür scharrt.
    Ich stehe auf, werfe die Bettdecke zur Seite und öffne die
Zimmertür, alles ist dunkel, durch die Küchentür fällt etwas Mondlicht in den
Flur. Mich an der Raufasertapete entlangtastend, gehe ich an Mutters
Schlafzimmer vorbei, in dem auch ihr Freund liegt. Seit er bei uns wohnt, ist
die Tür geschlossen und nicht mehr angelehnt wie früher. Am anderen Ende des
Flurs bleibe ich vor der Wohnungstür stehen. Ich lege mein Ohr an die Tür. Da
ist nichts. Ich höre nur mein eigenes Atmen. Ich will sichergehen und drehe den
Schlüssel im Schloss, öffne die Tür einen Spalt, der gerade breit genug ist,
dass ich durchschauen kann. Es ist ganz still, das Licht im Hausflur brennt,
ich sehe niemanden.
    Ich habe Angst vor einem Feuer, davor, dass ein Wohnungsbrand alles
zerstört, was wir noch besitzen, dass die Wohnung vollständig ausbrennt und die
Asche der einzige Beweis dafür ist, dass wir dort einmal gelebt haben.
    In der Keksdose sammle ich kein Taschengeld mehr, sondern alles, was
mir wichtig ist. Ich lege die ›Liste der unerfüllten Wünsche‹ hinein, gepresste
Blumen, den Delfin aus Speckstein, ich nehme das Foto von meiner Mutter, meinem
Vater und mir aus dem Portemonnaie, auf dem wir im Wohnzimmer vor dem
Weihnachtsbaum sitzen, auf dem wir durch einen Knick getrennt sind. Die
Keksdose packe ich in einen blauen Rucksack, den ich neben die Tür stelle. In
den Flur hänge ich einen Zettel: »Wenn es brennt, bitte meinen blauen Rucksack
mitnehmen. Danke!«.
    Aber es brennt nicht und es bricht auch niemand ein, alles bleibt,
wie es war. Nur ein bisschen enger ist die Wohnung geworden, seit wir zu dritt
darin wohnen. Wenn ich dem Freund meiner Mutter im Flur begegne, schiebe ich
mich mit dem Rücken zur Wand an ihm vorbei und achte darauf, ihn nicht zu
berühren.
    ICH PUTZE DAS HAUS . Julie
schläft tief und
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