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Sommertochter

Sommertochter

Titel: Sommertochter
Autoren: Seydlitz Lisa Maria
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gleichzeitig aufgegeben hat.
    Die Kellner nehmen Camilles Aufgaben mit einem Lächeln an. Camille
ist nicht so beflissen und bedacht darauf, alles perfekt zu machen, trotzdem
macht sie alles mit der Aufmerksamkeit, die man sich als Gast wünscht.
    Manchmal setzt sich Camille zu ihren Gästen. Bevor es den Gästen
unangenehm wird, klopft sie kurz auf die Tischplatte, nickt ihnen zu und verschwindet
wieder hinter dem Tresen, setzt hinter dem Zapfhahn dem Bier Schaumkronen auf.
    Es sind nicht die Betrunkenen oder die Familienväter, die Camille
verliebt ansehen. Es sind die, die im Sommer auch an der Küste arbeiten und die
überlegen, ob sie im nächsten Jahr überhaupt wiederkommen sollen. Sie fragen
Camille nach Familie und Kindern und dann nach einem Treffen, doch Camille
lächelt nur still und schüttelt den Kopf. »Drei Mal nein«, sagt sie, während
sie die Gläser ins Spülbecken taucht.
    Die Kerzen auf den Tischen sind heruntergebrannt. Camille bittet die
letzten Gäste, nach Hause zu gehen, fegt mit der Hand die Krümel von den
Tischflächen und wischt feucht nach.
    IM WINTER KOMMT ANNA zur
Welt. Mutter, die sich an der Kommode im Flur abstützt, als die Wehen beginnen,
die sich zusammenkrampft, als das Wasser aus ihr herausstürzt. Auf der Kommode
steht der hölzerne Nussknacker mit dem weißen Bart und dem roten Gewand, in
seinem Mund eine Nuss. Er fällt herunter, sein Kopf bricht ab und die Nuss schwimmt
im Fruchtwasser auf dem Dielenboden. Der Freund meiner Mutter, der in den Flur
rennt, der sie mit seinem Auto zum Krankenhaus fährt.
    Ich warte zu Hause. Ich warte, dass das Telefon klingelt und sie mir
sagen, dass ich jetzt kommen und meine Schwester im Arm halten, ihre kleinen
Hände anfassen kann, aber das Telefon klingelt nicht.
    Mir ist kalt. Der Backofen bollert seine Hitze in die
Küche. Der Freund meiner Mutter kommt am Abend alleine nach Hause, ich sitze am
Küchentisch und mache die letzten Hausaufgaben, das Telefon liegt noch immer
neben mir. Meine Mutter und Anna müssten noch zwei Tage im Krankenhaus bleiben,
sagt er, dann könnte ich die Kleine auch kennenlernen. Er nimmt die Bilder von
Frida Kahlo von der Wand im Flur ab. Die Frau mit den Gewehren im Körper
verschwindet. Meiner Mutter fällt das nicht auf, als sie nach Hause kommt.
    Meine Mutter trägt Anna auf dem Bauch, in einem schwarzen
Tragegurt, den sie sich umgeschnallt hat. Sie kann nicht mehr arbeiten und
schreibt eine Anzeige für die Lokalzeitung, die neben anderen Jobangeboten in
der Wochenendausgabe abgedruckt wird.
    Die Frauen, die zum Vorstellungsgespräch in unserer Küche sitzen,
manche haben mehr Buchhandelserfahrung, manche weniger. Sie alle tragen
Kleider, wie meine Mutter sie früher auch trug, als sie auf dem Flohmarkt neue
Bilderrahmen, Teller und Schüsseln kaufte, als sie noch jeden Mittag in der
Buchhandlung kochte, als sie mit mir zusammen an Weihnachten ›Hört der Engel
helle Lieder‹ sang, als sie auf der Schaukel saß und mein Vater sie anschubste,
der Rasenmäher bretternd daneben stand.
    JULIE HAT KEIN FIEBER und
keine Kopfschmerzen mehr, sie hat ihr Matratzenlager aufgelöst. Sie stellt
morgens das Transistorradio an, das Geplapper der Moderatoren im Hintergrund,
sie macht sich fertig für die Bar. Obwohl sie ein Kindermädchen gehabt habe,
gab es Tage, an denen niemand mit ihr redete und sie das Radio anstellte, wie
alte Omas es tun, sagt sie. So hatte sie immer das Gefühl, dass da noch jemand
war.
    Ich sitze am Tisch, trinke Milchkaffee und denke, dass ich jetzt
alles weiß, und dass ich meine Sachen in die Jutebeutel packen und die 1400
Kilometer wieder zurückfahren könnte. Ich überlege, Julie das Haus zu schenken,
damit sie etwas hat, das ihr allein gehört, etwas, das sie dafür entschädigt,
dass ihre einzige Erinnerung an unseren Vater nicht echt ist, sondern einem
Foto und der Erzählung ihrer Mutter entnommen.
    Bevor Julie aus dem Haus geht, dreht sie sich noch einmal um. Wir
müssen uns noch überlegen, welche Farben die fehlenden Fliesen im Bad bekommen
sollen, überhaupt, es gebe noch so viel zu entscheiden, sagt sie, als könnte
sie meine Gedanken lesen. »Du solltest bleiben«, sagt sie.
    WIR HABEN VIELE NEUE IDEEN .
Mein Vater ist vor zwei Wochen aus der Klinik gekommen und es geht ihm gut. Die
Ärzte hatten uns gewarnt und gesagt, nicht immer gäbe es
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