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Sommertochter

Sommertochter

Titel: Sommertochter
Autoren: Seydlitz Lisa Maria
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Norwegen. Aus
Frankreich habe ich noch nie etwas bekommen.
    Â»Muss das sein, die dreckigen Reifen«, sagte meine Mutter zur
Begrüßung. Ihr sonst blasses Gesicht trug ein wenig Farbe. Sie fragte, ob ich
ihre Karte aus Kroatien schon bekommen habe. »Ich habe das hier bekommen«,
sagte ich und legte den Umschlag auf den Küchentisch, daneben das Polaroid.
Meine Mutter machte uns Kaffee, dann erst griff sie nach dem Brief und las. Als
sie fertig war, sah sie sich lange das Polaroid an. Sie wisse nicht, wer den
Brief geschrieben habe, sagte sie, sie wisse nicht, was das solle, was das
bedeute, sie schüttelte immer wieder den Kopf und goss Milch in ihren Kaffee,
gab Teelöffel um Teelöffel Zucker dazu, nach dem ersten Schluck verzog sie das
Gesicht und stellte die Tasse weg. Meine Mutter fragte, ob ich Kekse wolle. Ich
mag kein süßes Gebäck, ich mag es schon lange nicht mehr. Sie fragte, ob ich Mittagessen
wolle. Ich hatte schon gegessen. Sie stand auf und sah im Nebenzimmer nach, ob Anna
noch zwischen den Bausteinen saß. Ich zählte die kleinen Teller im Schrank, es
waren nicht mehr so viele wie früher, als sie noch jeden Tag in ihrer
Buchhandlung arbeitete, wo sie ihren Kunden nicht nur Bücher empfahl, sondern
zwischen den hohen Regalen auch Mittagessen servierte. Manchmal wechselte sie
das Geschirr aus. Sie erstand immer wieder neue Teller und Schüsseln auf dem
Flohmarkt, und wenn sie schließlich befand, dass sie doch nicht in den Laden
passten, brachte sie sie nach Hause und wir aßen davon.
    Meine Mutter blieb in der Küchentür stehen. Der Brief, fragte ich,
und ob sie die Schrift erkenne, ob ihr die Adresse etwas sage, ob wir Verwandte
in Frankreich hätten, von denen ich nichts wisse, ob mein Vater etwas damit zu
tun habe, seine ständigen Geschäftsreisen. Sie schüttelte den Kopf. Sie kenne
kein Haus, das habe sie doch schon gesagt, sie wisse nicht, wo es stehe und
seit wann es mir gehöre.
    Ich wusste, dass meine Mutter nicht die Wahrheit sagte. Ich stand
vom Tisch auf und leerte den restlichen Kaffee in die Spüle.
    UNSER HAUS HAT EINE dunkle,
hölzerne Haut. An manchen Stellen wächst waldgrüner Efeu und hinterlässt helle
Stellen, über die meine Mutter schimpft, wenn sie die Blätter zurückschneidet.
Um das Haus liegt ein großer Garten, der von einer Hecke umsäumt wird. Die
Hecke ist nicht besonders hoch. Wir müssen uns nicht vor den neugierigen
Blicken der Nachbarn schützen, zum nächsten Haus sind es über hundert Schritte.
Nur manchmal verirren sich Wochenendausflügler oder Rentner auf Fahrrädern vor
unser Tor. Sie bleiben auf dem Schotterweg stehen, und wenn jemand von uns im
Garten arbeitet, fragen sie nach den schönsten Routen über die Felder und durch
den Wald, sie fragen, ob es Rehe gebe, die man durch ein Fernglas beobachten
kann, sie fragen, an welcher Stelle wir schon Brombeeren gefunden hätten.
    Ich wünsche mir eine Schwester, aber ich würde auch einen
Bruder nehmen. Jemanden, mit dem ich in diesem Haus laut sein, Kissenschlachten
machen, auf der Terrasse seilspringen oder im Garten im Kirschbaum ein Baumhaus
bauen kann. Manchmal spreche ich die Frage aus. Sie bleibt im Raum stehen und
es dauert lange, bis ich eine Antwort bekomme. Wenn du größer bist und auf Geschwister
aufpassen kannst. Wenn deine Mutter nicht mehr so viel in der Buchhandlung
arbeiten muss. Wenn wir uns entschieden haben, welches Zimmer das Kind bekommen
kann. Wenn dein Vater nicht mehr so oft verreisen muss. Wenn es deinem Vater
besser geht. Wenn es Sommer wird. Die Antworten sagen mir wenig, auch wenn es
heißt, dann musst du aber teilen lernen. Dann bist du nicht mehr die Einzige.
Dann können wir uns nicht mehr so viel leisten. Dann können wir nicht mehr in
den Urlaub fahren. Dabei sind wir bislang überhaupt nur ein Mal mit dem Kombi
weggefahren, wirklich weit weg, mit Pausen an Autobahnraststätten und Proviant
in großen Tupperdosen, auf der Hinfahrt mit Übernachtung in einem Hotel, in
dessen Keller es einen Pool gab. Mit dem Flugzeug oder dem Zug waren wir nie
irgendwo.
    Ich warte darauf, ein Baumhaus zu bauen, teilen zu lernen, nicht
mehr allein zu sein.
    NUR EINMAL STELLE ICH das
Auto ab und schalte den Motor aus, zum Tanken, drei oder vier Stunden nach der
Grenze.
    Nachts ist die Autobahn frei. Ich drücke den Fuß immer fester aufs
Gas, als seien er und das Pedal mit
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