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Sommertochter

Sommertochter

Titel: Sommertochter
Autoren: Seydlitz Lisa Maria
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einer Kordel aneinandergeschnürt. Ich drehe
das Radio lauter, will meine Gedanken mit französischen Chansons und aufgeregt
plappernden Moderatoren übertönen, ich versuche zu folgen und verstehe von
Stunde zu Stunde mehr, gewöhne mich an die Sprache.
    Die Sonne geht auf, die Gegend wird karger. Ein paar Menschen sind
bereits unterwegs. Ich fahre an den Rand und frage nach dem Weg, obwohl der
Atlas auf dem Beifahrersitz liegt. Ich bin froh, den Klang dieser Sprache nicht
vergessen zu haben. Ich habe Französisch in der Schule gelernt, drei oder vier
Jahre lang, ich probiere aus, was davon übrig geblieben ist. Ich ernte
irritierte Blicke. Ein Mädchen allein im Auto auf dem Weg an die Küste. Wenn
ich wieder losfahre, lasse ich den Motor aufheulen und die Leute schauen mir
hinterher.
    Ich fahre Landstraße, immer wieder an riesigen Supermarktarealen
vorbei. Dass hier die letzte Tankmöglichkeit vor England sei, steht auf einem
Schild.
    Als die Straße schmaler wird und in einen Weg übergeht, der sich
einspurig durchs Dorf schlängelt, verlangsame ich die Geschwindigkeit. Es ist
Mittag, die Sonne steht hoch über mir. Ich bin in Coulard angekommen. Kleine,
unscheinbare Häuser mit abgetragenem weißem Anstrich und bunt leuchtenden
Fensterläden in blau, türkis, rosa. Farben wie in dem Süßwarengeschäft, das
früher auf meinem Schulweg lag. Ich gab dort heimlich mein Taschengeld für
pastellfarbene Zuckerbonbons aus, die auf der Zunge prickelten.
    Mein Magen knurrt, ich habe lange nichts mehr getrunken und
gegessen. Ich halte Ausschau nach einem Kiosk, nach einem Souvenirshop, nach
irgendetwas Essbarem oder überteuertem Trinkwasser, sehe nur Autos mit
deutschen Kennzeichen, an den Frontscheiben Halterungen für das
Navigationsgerät, an den Fenstern Sonnenblenden mit Tiermotiven.
    Am Ende der Straße steht neben Plastikstühlen eine Tafel, darauf in
Kreideschrift »Moules
Frites« . Ich halte kurz neben dem Schild, lasse den Motor laufen
und schaue mir die Bar an. Sie ist außen mit verwittertem Holz verkleidet,
durch das sich Risse ziehen. In geschwungenen, blauen Buchstaben zieht sich der
Name quer über die Front des Hauses: Bar du Matin. Die Tür ist weit geöffnet.
    Â» GEBOREN WURDEST DU in der
Mittsommernacht«, erzählt meine Mutter, sie wischt Staub im Wohnzimmer. Ich sei
schon fast einen Monat fällig gewesen, vielleicht hatte sich der Arzt auch beim
Geburtstermin verrechnet, so genau habe das keiner gewusst, sagt sie. Es war
der Tag vor der Sommersonnenwende und auf einer der Wiesen hinter dem Haus
meiner Eltern sah sie Menschen das Johannisfeuer vorbereiten. Sie schichteten
große Holzscheite zu Haufen, um sie bei Anbruch der Dunkelheit anzuzünden.
Jedes Jahr begrüßen die Bewohner der Stadt den Sommeranfang mit dem Feuer, und
wenn die Scheite später am Abend heruntergebrannt sind, dürfen die Kinder über
die Glut springen, die Jüngeren an den Händen ihrer älteren Geschwister.
    Die Sonne scheint ins Wohnzimmer. Ich puste gegen den Staubteppich
auf der Fensterbank und es sieht aus, als würde der Staub jetzt in der Sonne
tanzen. Meine Mutter wedelt mit der Hand in der Luft herum und muss niesen.
    Als die Wehen begannen, habe sie noch Sonnenblumen im Garten
geschnitten, die sie auf dem Küchentisch zu einem Stillleben drapieren wollte.
Sie stand mit nackten Füßen mitten im Beet, ihr Kleid spannte sich über ihren
Bauch, und als sich das Wasser über ihre Füße ergoss, ging sie über die Treppe
ins Haus zum Telefon und rief sich selbst ein Taxi. Und noch im Krankenhaus
trug sie ihren Strohhut, bis eine Krankenschwester fragte, ob sie ihn ihr
abnehmen solle oder ob der Hut so etwas wie ein Glücksbringer sei, wo doch der
Mann noch fehle. Meine Mutter schüttelte den Kopf und sagte, sie solle ihr den
Hut abnehmen, schnell, sie habe ihn einfach vergessen, und der Mann, der komme
noch, ganz sicher komme er noch rechtzeitig.
    Mein Vater schaffte es noch ins Krankenhaus und schnitt sogar die
Nabelschnur durch. Das Hemd klebte nass an seinem Rücken, an den Schläfen lief
der Schweiß. Erst als ich gebadet und in Tücher gewickelt auf dem Bauch meiner
Mutter lag, traute er sich, mich anzufassen, nur auf den Arm nehmen wollte er
mich noch nicht. Er wolle mich erst ein wenig anschauen, habe mein Vater
gesagt.
    Meine Mutter legt den Staublappen auf die Fensterbank. Ich
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