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Sommertochter

Sommertochter

Titel: Sommertochter
Autoren: Seydlitz Lisa Maria
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lausche
ihr auf dem Boden sitzend, ziehe gerade so fest an den Fäden des Flokatis, dass
sie nicht ausreißen. Meine Mutter inspiziert den Stoff des Vorhangs, blickt aus
dem Fenster auf den Kirschbaum, umfasst das Medaillon auf ihrer Brust und
drückt es, als sei es Knetmasse. »Vielleicht wäre es auch ohne ihn gegangen«,
sagt sie etwas leiser, als wolle sie nicht, dass ich es höre, als denke sie es
nur. Und dann erzählt sie, wie mein Vater mich im Jahr nach meiner Geburt auf
dem Rücken und manchmal auf dem Bauch trug, mein kleiner Körper eingeschlagen
in ein großes gewebtes Tuch, mein Kopf lag auf seiner Brust oder in seinem
Nacken. Er habe immer gelächelt, wenn er mich getragen habe, wenn er mit mir in
den Wald zu den Bisons und Rehen gegangen sei, oder die langen Wege durch die
Weizenfelder.
    Â 
    Ich setze mich auf den großen Sessel am Fenster zur
Terrasse. Ich schaue auf den Kirschbaum und den Schuppen aus dem morschen Holz,
ich drehe den Kopf und schaue aus dem anderen Fenster, auf die Hecke und die
Straße, auf der sich nichts bewegt.
    Ich stelle mir vor, es gäbe ein Haus direkt gegenüber, in dem
Nachbarn wohnen, eine Familie oder zwei, ich stelle mir vor, das Haus stünde
dort, wo der Kirschbaum steht, so würde man nachts, wenn es stürmt, nicht mehr
den Kirschbaum ächzen hören, sondern Licht im Haus der Familie gegenüber
brennen sehen. In der ersten Etage lebt eine Puppenhausfamilie. Die Kinder
tauchen mal in einem Zimmer auf und dann in einem anderen, sie tragen Schüsseln
und Teller zum Esstisch, zünden langstielige Kerzen an und rühren in Töpfen.
Sie sitzen mit ihren Eltern an einem Tisch, der beinah eine Tafel ist, sie
lachen, das Gespräch ebbt nie ab, denn es gibt immer noch etwas zu erzählen.
Mit Schwung räumen sie nach dem Essen den Tisch ab, der jüngste Sohn dreht die
Stereoanlage auf, sie nehmen sich an den Händen, alle tanzen ein bisschen, die
Tochter sitzt auf den Schultern des Vaters.
    Ich wickle meine Haare um die Zeigefinger wie Korkenzieher.
    ICH HABE BEIM EINPARKEN mit
dem Heck einen Transporter touchiert. Ein Mädchen lehnt jetzt am Eingang zur Bar,
sie schaut nicht auf, obwohl sie den Zusammenstoß gehört haben muss. Sie trägt
ein rotes, knielanges Kleid. Sie raucht und beobachtet gelangweilt einen
kleinen Vogel, der vor ihren Füßen Krumen aufpickt. Ihr dickes, hellbraunes
Haar ist weit oben am Kopf zu einem Pferdeschwanz gebunden. Ich schaue mich um,
suche einen Fotografen, der sie für eine Modezeitschrift ablichtet, sehe
niemanden.
    Ich steige aus und bin nervös, als erwarte mich jemand, als säße
jemand in der Bar, der mir meine Geschichte erzählen, meine Erinnerungen mit
seinem Wissen auffüllen und so die Lücken schließen wolle, von denen ich erst
seit ein paar Tagen vermute, dass es sie geben muss.
    Das Mädchen schnippt die Zigarette weg und schreibt mit den Armen
große, scheuchende Bewegungen, als vertreibe sie einen Eindringling, den sie
gerade beim Griff in die Kasse erwischt hat. Ihr Pferdeschwanz springt von der
einen Schulter zur anderen.
    Ich folge ihr in die Bar. Sie ist auch innen mit Holz ausgekleidet.
Hinter dem Tresen ein vierstöckiges Regal, in dem Spirituosen stehen, die
Holzstühle sind mit rotem Samt bezogen. Das Mädchen beginnt zu schimpfen, ich
weiß nicht, wen sie meint, hier ist niemand außer uns. Dann höre ich das
aufgeregte Flattern, sehe den kleinen Vogel, der von einer Ecke des Raumes in
die andere fliegt, der sich verirrt hat und geradeaus auf die Scheibe zufliegt.
Ein hohler Klang, als sein Schnabel gegen die Scheibe knallt, sein Körper an
Glas. Das Mädchen verzieht das Gesicht, als habe sie etwas Ungenießbares herunterschlucken
müssen. Ich warte kurz, aber sie rührt sich nicht vom Fleck, also nehme ich ein
Geschirrhandtuch von der Kaffeemaschine, knie mich auf den Boden und lege es
über den kleinen Körper. Ich umfasse den Vogel und trage ihn aus der Bar, setze
ihn auf einen Plastikstuhl vor der Tür. Ein paar Augenblicke benötigt er, um
sich zu orientieren, dann hüpft er auf die Armlehne und fliegt weg.
    Â» ERZÄHL MIR VON FRÜHER «,
sage ich zu meiner Mutter und lenke den Drachen über das Feld, weiche großen
Strohballen aus. Unser Kirschbaum ist ein orangeroter Fleck in der Ferne.
Plötzlich ein schneller, gerader Sturz und der Drachen bleibt zwischen
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