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Sommertochter

Sommertochter

Titel: Sommertochter
Autoren: Seydlitz Lisa Maria
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versuche ich es erneut auf
Französisch. »Don’t
speak English«, sagt sie und wischt mit dem Lappen über die
Theke.
    IMMER WENN ICH EINE Ahnung
davon bekommen will, wie es war, bevor bevor es mich gab, als meine Mutter und
mein Vater noch ohne mich waren, gehe ich ins Wohnzimmer und setze mich auf den
Flokati vor das schmale Sideboard aus Teakholz, das fast die ganze Wand
einnimmt, auf dem aber nie mehr als zwei kleine Blumenvasen stehen, die eine
etwas größer als die andere, und ein Foto in einem Rahmen mit feinem Goldrand.
Wir haben keine Ahnengalerie im Wohnzimmer hängen, es gibt bei uns keine kleinen,
runden Holzrahmen, aus denen seriös Köpfe in schwarz-weiß oder sepia blicken.
Dieses Foto im goldenen Rahmen ist das einzige Foto, das in unserem Haus
sichtbar platziert ist. Mutter trägt darauf einen Papierhut, Vaters dunkle
Cordhose ist voller weißer Farbflecken, sie sind beide noch sehr jung, 20,
vielleicht 22. Sie stehen zwischen Farbeimern, Pinseln und Tapetenrollen, das
Frühlingslicht scheint durch die Wohnzimmerfenster und beide lachen. Meine
Mutter, wie sie die Arme nach oben streckt, in der linken Hand die Farbrolle am
Stiel, und mein Vater, von dem man nur das Profil sieht, weil er meine Mutter
anschaut.
    Ich drehe mich im Kreis, drehe mich immer schneller, bis alles
verschwimmt. Ich schließe die Augen und stelle mir meine Mutter und meinen
Vater und mich vor, wie wir renovieren und unsere Handabdrücke an der Wand
hinterlassen, meine Finger in der Mitte, halb so groß wie Vaters. Ich lasse
mich auf den Flokati fallen, ich liege auf dem Rücken und zähle die Sterne vor
meinen Augen.
    AUF DEM WASSER LIEGT die
Gischt wie eine Spitzenborte. Die Küste windet sich vierzig Meter in die Tiefe.
Ich trete einen Schritt zurück, schaue mich um. Auf der anderen Seite lese ich
Straßenschilder: Rue du Petit Loch, Rue de la Plage, Route des Galets. Ich
drehe mich wieder zur Küste. Würfe man einen Stein in die Gischt oder spränge
hinunter, mit dem Kopf voraus, die Hände gestreckt und gefaltet, das Geräusch
des Eintauchens wäre oben nicht zu hören.
    Â 
    Vor zwei Tagen war ich das zweite Mal bei meiner Mutter. »Ich
fahre nach Frankreich«, sagte ich abends zu ihr durch die Sprechanlage. Sie
drückte auf den Summer. »Ich fahre an die Küste«, wiederholte ich, als ich oben
in ihrer Wohnung im Flur stand, noch bevor ich die Schuhe ausgezogen und die
Tasche abgelegt hatte, »ich fahre zum Haus.« Sie verschränkte die Arme, »der
Brief«, sagte sie und ich nickte. Anna kam aus dem Wohnzimmer, umschlang mit
ihren kurzen Armen Mutters Knie und schaute zu mir, ihr Kinn an die Brust, die
Lippen zum Schmollmund geformt. »Der Brief«, wiederholte meine Mutter, und dann
sagte sie »okay«. Und als ich schon ansetzte zu sagen: »Ich fahre auch, wenn du
dich weigerst, etwas zu sagen und dich zu erinnern«, da forderte sie mich auf
zu warten und gab mir ein Zeichen, ich solle in die Küche gehen. Sie gab Anna
einen Klaps in meine Richtung. Anna auf dem Schoß, hörte ich, wie meine Mutter
die Wohnung verließ.
    Meine Mutter, die kurz darauf wiederkam, ein wenig außer Atem. Meine
Mutter, die mir einen Schlüsselbund in die Hand drückte, drei lange
Eisenschlüssel mit rechteckigem Bart, wie man sie früher hatte. Wo sie sie die
ganze Zeit gelagert hatte, weiß ich nicht.
    Â»Gute Reise«, hörte ich meine Mutter sagen, sie trat einen Schritt
zurück, Anna an ihre Brust gepresst, sie sagte es, als würden wir uns morgen
wieder sehen, sagte »Gute Reise« wie ein »Tschüss, bis dann.«
    Zwei Zahlen aus rostigem Metall, die Hausnummer hängt
etwas schief neben der Tür. Es ist eine baumlose Gegend, weites, flaches Land,
wenige Häuser. Ich gleiche das Haus, vor dem ich stehe, mit dem Polaroid aus
dem Briefumschlag ab. Ein kleiner Schornstein, ein rotes Dach, ein Apfelbaum.
Seegrüne Fensterläden, die auf dem Polaroid noch braun sind. Und neben der Tür
wachsen links und rechts Lavendelsträucher, wie frisch gepflanzt, auch sie
fehlen auf dem Polaroid. Der Geruch nach Terpentin, zwei Metalleimer unter dem
Fenster, an den Borsten des Pinsels eingetrocknetes Seegrün.
    Ich drücke die Stirn ans Glas, lege die Hände neben die Augen, kein
Vorhang versperrt die Sicht. Mein Atem beschlägt die Scheibe. Ein großer Raum,
eine Holztreppe hoch zum ersten Stock, in
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