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Sommertochter

Sommertochter

Titel: Sommertochter
Autoren: Seydlitz Lisa Maria
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in Restaurants essen, eine eigene Küche
haben wir nicht. In Strickjacken sitzen wir draußen unter Vordächern und sehen
aufs Meer oder beobachten das Treiben auf der Straße, Jugendliche auf
Motorrollern oder Familien mit süßen Waffeln in der Hand. Meine Mutter
beschwert sich manchmal über das Essen, über die verwendeten Gewürze, die
Garzeit, die Frische oder die Konsistenz, aber mein Vater und ich antworten ihr
nicht, wir essen mit vollen Gabeln und hungrigen Bissen und wir blinzeln uns
über den Tisch zu, denn wir wissen, dass sie nichts zufrieden stellen kann, was
sie nicht selbst gekocht hat.
    Zum Haus gehen wir nicht mehr, wir vergessen das unrenovierte Bad,
wir vergessen das Schlafzimmer ohne Bett, in dem wir auf Isomatten und in
Schlafsäcken hätten schlafen, wo wir das Frühstück im Schneidersitz im Garten
vor dem Haus hätten zu uns nehmen müssen.
    Wenn wir uns später an den einzigen gemeinsamen Urlaub erinnern,
erinnern wir uns nur an den Sonnenbrand, den ich schon am zweiten Tag bekam,
wir erinnern uns an den Strand und die gedünsteten Meeresfrüchte, die wir
abends im Restaurant bestellten.
    Ich frage mich, ob ich den Erinnerungen trauen kann, die sich
aufdrängen, die plötzlich da sind, oder ob die Erinnerungen mit Träumen
verschmelzen, mit Wünschen verschmelzen, mit der Gegenwart verschmelzen und zu
einem werden, wie bemalte Folien, die man übereinanderlegt und die sich so zu
einem neuen Bild fügen.
    DIE OSTERFERIEN FOLGEN ihrem
eigenen Rhythmus. Jeden Abend geht meine Mutter für das Mittagessen in ihrer
Buchhandlung einkaufen, danach bügelt sie ihre und unsere Kleider. Das
Bügeleisen presst kleine Dampfwolken in die Luft, in denen sie fast
verschwindet.
    Meine Mutter steht jeden Morgen früh auf, mein Vater bleibt im Bett
liegen. Er bleibt während der Ferien mit mir zu Hause. Ich schlafe nicht lange,
von den Geräuschen im Haus wache ich auf. Vom Fenster aus beobachte ich meine
Mutter. Sie sieht schön aus, wenn sie geht. Ihre Lippen sind rot nachgezogen,
die langen, dunklen Haare hochgesteckt, sie trägt ein helles Blumenkleid. Sie
lädt ein paar Kisten in das Auto, zählt ab und kontrolliert, ob sie alles hat.
    Wenn sie gegangen ist, ist es ruhig im Haus, kein Stühlerücken, kein
Geschirrgeklapper, keine Musik, kein Rufen durch den Flur.
    Ich mache mir Marmeladetoast zum Frühstück, Vogelgezwitscher klingt
durchs Küchenfenster.
    Mein Vater schläft bis Mittag, dann wecke ich ihn. Ich koche Kaffee
und gieße ihn in eine Tasse. Ich trage sie über die Treppe hinauf durch den
Flur, wedle mit der Hand hin und her, wie ich es in der Werbung gesehen habe.
Ich presse mein Ohr an die Tür, dann drücke ich die Klinke herunter, setze mich
auf die zerwühlten Laken und gebe meinem Vater die Tasse. »Aufstehen«, sage
ich, »aber dalli jetzt«, so, wie es meine Mutter manchmal zu mir sagt, ich
schaue streng, dann lache ich.
    Er zieht sich kurze Hosen an und ein T-Shirt, nie wirft er einen
Blick in den Spiegel. Ob ich schon gefrühstückt habe, fragt er.
    Zuerst sehen wir zusammen fern, ›Alf‹ oder ›Eine schrecklich nette
Familie‹ oder was sonst noch kommt. Mein Vater lacht gar nicht oder an Stellen,
bei denen es nichts zu lachen gibt. Wenn ich Hunger bekomme, koche ich uns
Nudeln mit Soße oder schmiere Käsebrote, die ich mit kleinen Gurken belege, für
meinen Vater mahle ich Pfeffer auf das Brot.
    Nachmittags scheint die Sonne so ins Wohnzimmer, dass wir uns im
Fernseher spiegeln. Meine Mutter würde sagen: »Draußen ist so schönes Wetter
und ihr sitzt hier drin, ihr habt sie ja nicht mehr alle.« Ihre Stimme wäre lauter
als sonst. Das wissen wir und deswegen schalten wir den Fernseher um kurz vor
sechs aus, bevor sie wiederkommt.
    DIE TREPPE, DIE ZUM ersten
Stock hinaufführt, antwortet mit einem Quietschen. Durch die Dachfenster fällt
Licht, das sich viereckig am Boden sammelt. Ich lasse meine Jutebeutel vor
einer der beiden Matratzen fallen, ich mag keine Ledertaschen mehr, mag keine
Koffer.
    Als ich vor zwei Tagen bei meiner Mutter war und sie mir schweigend
die Schlüssel überreichte, sagte sie nicht, dass wir vor vielen Jahren schon
einmal mit dem Auto in dieses Dorf gefahren sind, sagte nicht, dass ich das
Haus hinter dem Apfelbaum schon einmal gesehen habe, sie sagte nicht, dass ich
auf mich aufpassen solle. Aber sie sagte:
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