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Sommerstueck

Sommerstueck

Titel: Sommerstueck
Autoren: Christa Wolf
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Schwestern? sagte er. Die achten am strengsten darauf, daß wir unsere Geheimnisse hüten. Wenn ein Patient durchdreht, haben sie die Last. Irene sagte, weinend: Und Josef? – Wir schwiegen dann.
    – Mit Josef ist es jetzt sehr schön, du. Wie nie. Wirsind glücklich miteinander. Sag mal, welche Art Befehl bringt eine gesunde Zelle dazu, sich hemmungslos zu vervielfältigen. Zu »entgleisen«, so hatte es die Ärztin genannt, mit der ich am besten reden konnte, obwohl sie nach einiger Zeit über sich selbst reden mußte. Zugab, daß sie abends trank. Wir trinken hier doch alle, sagte sie. Das Zellwachstum entgleist. Solchen Vergleichen habe ich oft stundenlang nachgehangen, wenn ich im Liegestuhl im Garten lag, Musik hörte, immer wieder das kleine Impromptu von Schubert, gespielt von Rostropowitsch. Du. Sag mir mal. Wie ist das: altern.
    – Jetzt seh ich dich ganz deutlich. Du hast dein neues dunkelblaues Kleid an.
    – Marineblau, hat die Verkäuferin gesagt. Blonde müssen Blau tragen. Plötzlich ist mir, als ich mich bückte, mein Schaumgummibusen nach oben gerutscht. Da habe ich ihn aus dem Kleiderausschnitt herausgezogen und ihr hingehalten: So was bieten sie einem nun an! – Der Blick der armen Frau!
    – Um das Stück Fleisch, hast du gesagt, das sie dir da weggeschnitten haben, täte es dir wirklich leid.
    – So lächerlich es ist, ich war stolz auf meinen Busen.
    – Altern ist Rückzug. Ein Rückzug, den du nicht selbst vornimmst. Der in dir vorgenommen wird. Etwas, was dein Teil ist, zieht sich in dir von dir zurück. Du bist zuerst irritiert. Fühlst dich durch dich um dich betrogen. Daß du an dir das Interesse verlieren könntest, hast du nicht erwartet, aber es entweicht unaufhaltsam; wie aus einem Ballon, der ein winziges Leck hat, das Gas entweicht.
    – Was würdest du tun, wenn du wüßtest, daß du morgen sterben mußt.
    – Tun? Da werd ich wohl nichts mehr tun können.
    – So ist es. Nicht das berühmte Bäumchen pflanzen. Nicht das letzte Geschirr abwaschen, den letzten Reißverschluß einnähen. Nicht deinem Kind die letzte entscheidende Lehre erteilen. Die Antwort ist: Angst. Angst Angst Angst. Und alles umwühlen wirst du nach einer Hoffnung.
    – Und kein Anhauch von Erleichterung? Daß nicht einmal du noch etwas von dir verlangen kannst? Daß die Überanstrengung zu Ende ist?
    – Was für Fragen. Sind mir fremd.
    – Jetzt sind vier von den sieben Rosen aufgegangen, und ich habe es wieder nicht bemerkt. Ich seh dich. Du gehst mit deinem Fotoapparat durch den ganzen großen Bodenraum, der noch leer ist, und fotografierst den Blick aus allen Fenstern: Seh ich alles. Seh ich für immer. Nicht nur du, auch ich machte Bilder.
    – Wie oft wir beieinanderhockten. Meist sprach ich, du hörtest zu. Dann sagtest du ein paar Sätze, und ich dachte, du verstehst.
    – Verstehen, das war meine Rolle. Wußtest du das nicht.
    – Ich weiß natürlich, Schwester, wogegen meine geschundene Leber protestiert. Sie kämpft an meiner Statt gegen das Leben, das ihr aufgezwungen wurde. Das auch ich ihr aufgezwungen habe, in diesem Irrenhaus. Kämpft auch gegen den alten Josef – dabei denk ich manchmal, er könnte mich retten.
    – Ich hab ihn gefragt, Josef: Und du denkst, wir machen das richtig. Daß wir ihr nicht sagen, wie es um sie steht. Sie will es doch wissen. – Das glaubst du , hat er mir gesagt. Nix will sie wissen. Neulich hat siees mir zugegeben: Wenn es das ist, hat sie gesagt, sagt mir nix. Belügt mich, aber belügt mich gut.
    – Wenn er abends seine dicken kühlen Bratzen auf meinen Bauch legt, bis sich dahinter was rührt, endlich was rührt, und die Lebenssäfte wieder fließen, dann fühl ich eine himmlische große Ruhe in mir, dann bin ich glücklich. Die Bäume. Der Regen. Noch ein Rest Natur, eh der Irrsinn alles verschlingen wird.
    – Ob dus nicht doch versuchen solltest, hab ich zu Josef gesagt, und er hat geantwortet: Ich kann doch jetzt nicht weich werden, gerade jetzt. Weißt du, was dann passiert? Dann bricht alles zusammen. Ich hab gesagt, du hast Angst, daß dann alles zusammenbricht, und er hat gesagt: Na klar hab ich Angst. Ich hab gesagt: Du, Josef. Sie stirbt. Er hat gesagt: Wem sagst du das. Was kann ich machen. Kann ich sie halten? Bin ich Gott?
    – Ich hab Schuldgefühle, weil ich krank bin und eine Last und mich nicht mehr beherrschen kann, nicht mehr alles hinnehmen kann, was mich krank macht. Das Protoplasma glänzt nicht mehr. Ich darbe. Ich darbe. Habe
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