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Sommernachtsfrauen: Roman (German Edition)

Sommernachtsfrauen: Roman (German Edition)

Titel: Sommernachtsfrauen: Roman (German Edition)
Autoren: Keith Donohue
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    »Willst du uns veräppeln?«, fragte Harpo.
    »Ach, was weißt denn du?« Hätte ich einen Schuh gehabt, hätte ich ihn nach dem Kater geworfen.
    Harpo fauchte mich an wie der Tiger seiner Träume.
    Jack lud mich auf der Stelle zum Kaffee ein, und ich dachte, puh, nicht schon wieder einen Architekten. Ich hatte es geschafft, mich von dieser Spezies einige Jahre fernzuhalten, aber was war schon dabei, einen Kaffee miteinander zu trinken? Jack, so stellte sich heraus, war anders. Er schien jemand zu sein, den ich schon seit immer kannte, so als wären wir uns bereits in einem früheren Leben begegnet und als sei es uns bestimmt, uns wieder zu begegnen. Seine Eigenheiten und Gesten, das Leuchten seiner Augen. Selbst die Art, wie er sprach. Man führte kein normales Gespräch mit ihm, keinen Plausch über das Wetter, es ging immer ein bisschen tiefer, ich weiß nicht, wie bei einem Haiku oder etwas Japanischem. Philosophisch, poetisch, nach Tiefe suchend. Eine alte Seele. Kein anderer sprach so mit mir. Keine anderer behandelte mich so.
    Und er lebte völlig in seinem Kopf. Was ein interessanter Ort sein kann, wenn er dich reinlässt. Ich habe ihn oft dabei überrascht, wie er vor sich hin sang, wenn er glaubte, niemand höre zu: Melodien aus Opernarien, wie sich herausstellte. Oder ich kam aus einer Laune heraus bei ihm vorbei, und er war mitten in einem alten Western oder sah etwas mit Charleston-Girls oder einen Buster-Keaton- oder Marx-Brothers-Film. Doch am meisten unterschied ihn von anderen, dass er unaufhörlich auf seinem eigenen Wunschpfad unterwegs war. Und seine Träume waren, denke ich, das Symptom für einen tiefer liegenden Schmerz, für eine Art Verzweiflung.
    »Verzweiflung? Jack?« Mein Bruder erkannte mich nicht in ihrer Beschreibung.
    »Jack erzählte mir seine Träume. All das, was er entwerfen und gebaut sehen wollte, natürlich, aber auch darüber hinaus. Was er aus leerem Raum gestalten wollte, wie er den Menschen Orte schaffen wollte, die sie für die Arbeit, fürs Studieren oder einfach zum Leben brauchen. Wie man aus einem Haus ein Heim macht. Immerzu las er in der Poetik und versuchte, dort den Schlüssel zu finden, um all das zu verwirklichen. Doch ich glaube, er verzweifelte richtig daran, dass es ihm nie gelingen würde. Zu viele Hürden. Die Bürokratie in seiner Firma. Die Missgunst der anderen.«
    »Das gibt es doch überall«, sagte Sam.
    Sie dämpfte ihren Kummer mit einem Seufzer. »Ich habe das erlebt, deshalb erkenne ich die Zeichen. Immer nur Wünsche, nie Taten. Immer Sehnsucht, aber nie Suchen. Seine Träume, all diese Häuser, Gebäude und Städte zu bauen, die er als Junge gezeichnet hatte. Er führte ein Leben in der Warteschleife, während er darauf wartete, dass sein Leben begann. Selbst das mit mir. Das Schlimme daran ist, dass wir uns so nahe waren.«
    Ich sah ihr Gesicht von Glühwürmchen umschwirrt.
    »Vor Kurzem hatten wir abends einige Leute aus seiner Firma zu Besuch, eine Grillparty, um einen weiteren Sommeranfang zu feiern. Das Ehepaar auf der anderen Straßenseite saß auf der Veranda und blies für die beiden Töchter Seifenblasen in die Luft, denen sie hinterherjagten. Und dann erschienen wie durch Zauberei Glühwürmchen, zu zweit, zu Dutzenden, zu Hunderten. Die Mädchen waren begeistert. Und dann redeten diese zwei Trottel aus seinem Büro auf mich ein, und irgendwann fing ich Jacks Blick auf und bat ihn in Gedanken, mich hier rauszuholen, mich von all dem zu befreien. Wegzurennen, gemeinsam auf das Meer zu schauen, unseren eigenen kleinen Zauber zu beginnen. Doch ich vermute, dass er das Signal nie richtig aufgefangen hat, und heute frage ich mich, ob er wusste, wie sehr er geliebt wurde.«
    Wieder begann sie zu weinen, und Sam fing endlich das Signal auf, das ich ihm sandte. Er stand auf und legte einen Arm um ihre Schultern. Sie schmiegte sich in seine Umarmung. »Einer Sache bin ich mir ganz sicher«, sagte er, »wie sehr er geliebt wurde und wie sehr er dich liebte.«
    »Danke, alter Mann«, flüsterte ich.
    »Vielleicht schaffen wir es beim nächsten Mal«, sagte Sita.
    »Auf das nächste Leben!«, sagte Sam. Er geleitete sie zur Tür. Sie blickte noch einmal über die Schulter, dann verließen die beiden das Zimmer. Ich wollte sie an der Tür aufhalten, hoffte, sie noch ein letztes Mal zu sehen, doch sie drehte sich nicht um, und so ließ ich es gut sein.
    Wenig später ließen die Geräusche unten nach, da die Gäste das Haus verließen. Auf
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