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Sommernachtsfrauen: Roman (German Edition)

Sommernachtsfrauen: Roman (German Edition)

Titel: Sommernachtsfrauen: Roman (German Edition)
Autoren: Keith Donohue
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zu leben. Bei diesem ersten Mal, nach der Feuerprobe, nahm Rama sie wieder auf, doch später verbannte er sie wegen der anhaltenden Gerüchte im Königreich erneut. In der Verbannung gebar sie ihm Zwillinge – zwei Söhne, Lava und Kusha. Sita, das Urbild der allein lebenden Mutter, zieht diese beiden Kinder allein groß. Als Jahre später Rama zufällig die beiden Jungen kennenlernt und sie ihm das Lied des Rama singen, das ihre Mutter sie gelehrt hatte, so groß war ihre Treue, begreift Rama in diesem Augenblick seinen Irrtum und möchte seine Söhne an seinem Thron willkommen heißen. Und doch zweifelt er noch immer an Sita, sodass sie am Ende Mutter Erde bittet, sie in ihre einzig wahre Heimat zurückkehren zu lassen, und Sita steigt hinab in eine Erdspalte, zurück in die Umarmung ihrer Mutter.«
    »Seltsam, dass ein Vater seiner Tochter unter solchen Umständen diese Geschichte erzählt«, sagte Sam.
    Sita lachte leise. »Sicher, wenn du sie als Allegorie für meine Lage verstehst. Doch mein Vater empfahl mir keine Feuerprobe oder eine Rückkehr zu Mutter Erde. Ich war nicht die Göttin und Matthew ganz bestimmt kein Gott, keine Inkarnation von Rama oder irgendetwas dieser Art. Mein Vater hatte die gegenteilige Absicht im Sinn, falls denn überhaupt eine Lehre daraus gezogen werden muss. Ich habe allerdings meine Zweifel, dass es der Zweck von Poesie und Geschichten ist, eine Lehre zu liefern. Möglicherweise wollte er mir sagen: Kein Mann ist solch ein Opfer wert, oder?
    Von unten hörte man plötzlich einen Schlag und ein Getöse, als wäre jemand gegen eine Anrichte voller Gläser gestoßen, und eines sei zu Boden gefallen. Nach dem An- und Abschwellen der Gespräche unten zu urteilen, waren die Gäste nun damit beschäftigt, das Chaos zu beseitigen. Mein Bruder schwang die Beine vom Bett stellte die Füße auf den Boden. Sita saß neben ihm.
    Mit der Zeit ging es mir besser. Womöglich haben mir die Geschichten meines Vaters geholfen, aber mehr wegen des Erzählers als wegen des Erzählten. Und bestimmt das Glück, wieder zu Hause zu sein und von der Familie umhegt zu werden. Kennst du Bachelards Konzept der Wunschpfade? Man findet sie immerzu in Landschaften: Pfade oder Linien, von Mensch und Tier gebahnt, Pfade, die in einem Park oder einer Freifläche durch ständiges Begehen entstehen, der kürzeste Weg von einem Punkt zum anderen. Ich liebte diesen Begriff. Ich folgte dem Wunschpfad nach Hause. Das brauchte ich. Dort fand ich mich selbst wieder, und im folgenden Semester ging ich wieder aufs College und machte meinen Abschluss. Viel länger dauerte es, bis ich danach Männern wieder vertrauen konnte. Viele erste Verabredungen, aber kein spezieller Mann. Vier Jahre Suche in der Wüste, und dann führte mich mein Wunschpfad zu Jack.
    Zum Buch- und Geschenkladen des American Institute of Architects, einem hübschen, unbekannten Ort, zur Weihnachtszeit. Ich suchte nach einer Krawatte für meinen Vater, und der Typ ist der einzige andere Kunde im Laden. Es muss am frühen Nachmittag gewesen sein, an einem bewölkten Dezembertag mitten in der Woche. Ich kann nicht umhin, diesen Mann, der da zwischen den Waren umherspaziert, zu bemerken. Es ist kein großer Laden, und er geht einige Male an mir vorbei, und ich kann wirklich nicht sagen, ob er nach etwas Bestimmtem sucht oder ob er Mut sammelt, um mich anzusprechen. Deshalb frage ich ihn schließlich ohne Umschweife: »Kann ich Ihnen helfen?« Die Überraschung in seinen Augen ist einzigartig, und dann meint er, dass ich dort arbeite. »Ich weiß nicht, wonach ich suche«, sagt er. »Etwas Inspirierendes, etwas, das meine Gedanken anregt, etwas, das mir hilft zu träumen.«
    »Sind Sie Architekt?«, fragte ich ihn.
    »Sozusagen.«
    Er sah aus wie ein kleiner Junge, der in seinen Tagträumen gefangen ist. Darum nahm ich ihn an die Hand, führte ihn zu den Regalen und zog Bachelards Poesie des Raumes heraus. »Haben Sie davon schon mal gehört?« Da er den Kopf schüttelte, gab ich ihm das Buch, und man konnte meinen, er würde sich nie wieder von der Stelle rühren und nie wieder reden. Er war wie gelähmt. Ich war wohl zu forsch.
    Sie hat recht mit dem Buch. Ohne sie hätte ich es niemals entdeckt. Aber ich habe meine Zweifel, dass ich so schüchtern gewesen sein soll, als wir uns kennenlernten. Ich meine, ich habe mich sofort zu ihr hingezogen gefühlt, sie ist verblüffend schön. Ich glaube mich an eine gewisse Gewandtheit meinerseits zu erinnern
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